Als Psychiater habe ich von Bert Hellinger das Familienstellen gelernt, und für ihn 1995 ein Aufstellungsseminar „Familienstellen mit Psychosekranken” organisiert und herausgegeben. Obwohl die Aufstellungen sehr berührend waren, ergab sich für die Betroffenen keine Veränderung.

Dennoch: Ich hatte Feuer gefangen und forschte weiter.

Hellinger zeigt dem Klienten im Familienstellen die schweren Schicksale seines Systems zwar auf, aber seine Identifikationen mit diesen Schicksalen werden nicht wirklich gelöst, da das damit verbundene Symbiosethema nicht gesehen und gelöst wird.

Hellingers Annahme eines Sippengewissens, welches dafür sorge, dass ein Späterer das Schicksal eines ausgeklammerten Früheren wiederholen müsse, verstellt den Blick auf das Symbiosephänomen.

Bei meinen Forschungen wurde deutlich, dass ein Klient nicht nur mit schrecklichen Schicksalen seines Systems identifiziert ist sondern regelmässig mit den Angehörigen der Eltern, die diese früh verloren haben, so als versuche er für die Eltern diese Angehörigen zu ersetzen. Die Identifiziereung mit diesen Rollen („falsches Selbst”) prägt auch seine Wahrnehmung und ihre Partnerwahl. Wer schon für seine Mutter deren verlorenen Vater zu ersetzen versuchte, „findet” eine Partnerin, für die er die gleiche Rolle übernehmen kann. Gelernt ist gelernt.

DER SYMBIOSEKOMPLEX

Wenn man den Fokus mehr auf den Klienten und seine Beziehungsmuster lenkt, dann erkennt man immer deutlicher: Identifikationen, besonders die häufigen Mehrfachidentifikationen haben für die Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen gesetzmässige Folgen:

  • Sie können nicht immer zwischen dem Eigenen und dem Fremden unterscheiden.

  • Sie sind mit ihrer Aufmerksamkeit, mit ihren „Antennen” mehr beim anderen als bei sich selbst,

  • Daher neigen sie dazu, sich mehr nach den Erwartungen und Bedürfnissen anderer zu orientieren,

  • Sie neigen dazu, ihre Aggressionen da zu blockieren, wo sie gesund wären, und destruktiv gegen sich und andere zu richten.

Das alles sind bereits Aspekte eines Symbiosekomplexes, Ausdruck einer Verwirrung durch ein Symbiosemuster.

So entstand eine modifizierte Form der Systemaufstellung, welche mit den Konstrukten „Selbst” und „eigener Raum” und „Grenze” geeignet ist, die unbewusste und sehr bizarre Phänomene bewusst machen, die als Aspekte des Symbiose-Komplexes verstanden werden können. Der Klient stellt Repräsentanten auf für sein „Selbst” und für eine Bezugsperson, z.B. die Mutter. Sehr oft steht ihm dann die Mutter näher als sein eigenes Selbst. Mithilfe eines Schals, Symbol für eine Grenze, wird schnell deutlich, dass er keine Grenze zur Mutter kennt, dass er sich in einem gemeinsamen Raum mit der Mutter befindet. Das kann einmal bedeuten, dass er sich in Mutters Raum zuständig fühlt und für sie verschiedene Rollen übernimmt und daher nicht mit seinem eigenen Selbst verbunden sein kann. Oder dass er seiner Mutter den eigenen Raum und häufig auch den Platz seines eigenen Selbst zu Verfügung gestellt hat, so dass sein eigenes Selbst bei ihm keinen Platz mehr hat.

Durch die Aufstellung wird die Verwirrung des Symbiosemusters bewusst gemacht, die geradezu gesetzmässig so beschrieben werden kann: Die Betroffenen neigen dazu,

  • sich im Raum des anderen „zuständig” zu fühlen – und sich mit dessen Themen zu identifizieren – statt in ihrem eigenen Raum.

  • ihren eigenen Raum dem anderen – und dessen Interessen – zu Verfügung zu stellen als ihrem eigenen „Selbst”.

  • Ihre gesunde Kraft lieber gegen sich zu richten, als gegen den anderen.

Diese fehlende Abgrenzung wird zum zentralen Persönlichkeitsmerkmal, es bestimmt alle, ALLE! Beziehungen des Klienten, zu den Eltern, zu den Geschwistern, zu einem Partner, zu den Kindern, zur Arbeit (Workoholic, Burnout). Das Symbiosemuster ist so verbreitet, dass viele es für normal halten. Viele Betroffene halten gar ihre „Selbstlosigkeit” für Liebe, machen aus ihrer Not eine Tugend!

LÖSUNG

Systemaufstellung wirkt wie ein „bildgebendes Verfahren” (Otto Brink), Der Klient überträgt ein unbewusstes inneres Bild – das sein Selbstbild, seine Beziehungsmuster bestimmt – auf eine zweidimensionalen Ebene, macht es dadurch sichtbar und bewusst. Mithilfe von Testsätzen wird deutlich, dass seine Verwirrung durch früh erworbene und unbewusst verinnerlichte „Verbote” verursacht ist: durch Verbote, sich abzugrenzen und seinen eigenen Raum in Besitz zu nehmen, oder sogar durch ein Verbot, eine eigene Identität, ein eigenes „Selbst” zu besitzen!

Diese frühe erworbenen „Verbote” sind so etwas wie ein „Kristallisationskern” um den sich das Symbiosemuster mit seinen vielen Variationen entwickelt.

Neben dieser diagnostischen Funktion bietet die symbolische Ebene der Systemaufstellung auch einmalige therapeutische Möglichkeiten: Mit Hilfe geeigneter Lösungsrituale und klärender Sätze können die unbewusssten Verbote aufgehoben und das dadurch bedingte Symbiosemuster gelöst werden. Das wirkt – da auf einer symbolischen, nonverbalen Ebene – unmittelbar auf das unbewusste innere Bild ein, ohne „Umweg” über eine verbale Ebene.

Das erklärt die hohe Wirksamkeit dieser Methode.

FALLBEISPIEL

Hass auf die Stieftochter

Hanna, eine 55-jährige Pädagogin, geschieden, 2 Kinder, ist seit 10 Jahren in 2. Ehe mit Klaus verheiratet. Dessen Tochter aus erster Ehe kommt mit ihrem Leben nicht zurecht, hängt sich an ihren Vater, ruft häufig an. Ihr wird das zunehmend unangenehm und sie hat einen regelrechten Hass auf ihre „Stieftochter” entwickelt, der nun auch die Beziehung zu ihrem Mann belastet.

Im Autonomiediagramm zeigt sich eine deutliche Abgrenzungsschwäche.

Beziehungsklärung zur Stieftochter

Als ich ihr einen Stuhl als Repräsentanten für die Stieftochter gegenüber stelle gerät sie schon ausser sich. Es fühlt sich wie Trauma an und ich nehme den Stuhl wieder weg, Sie soll zunächst Stühle als Repräsentanten für ihre Selbstanteile aufstellen, so als stünde die Stieftochter bereits in 8 Meter Entfernung vor ihr.

Beide Selbstanteile stehen weit entfernt. Ich sage ihr: so getrennt von dem was sie eigentlich sein könnten, bleibt nur der Teil von ihnen übrig, der funktioniert. Das reicht vielleicht fürs überleben, aber Leben sollte etwas anderes sein. Dem kann sie sofort zustimmen.

Annäherung an die eigenen Selbstanteile

Ihre Kindheit war hart, beide Selbstanteile waren nicht erwünscht. Als Kind, abhängig von der Zuwendung der Eltern „lernte” sie, selber diese Anteile abzulehnen. Abgrenzung und eigener Raum waren ebenfalls nicht erwünscht. Also blieb ihr nur übrig, sich in fremden Räumen zu engagieren um so etwas wie eine Lebensberechtigung zu erwerben.

Durch die Vermittlung des Therapeuten – „wie bei einer Mediation” – gelang es ihr, sich ihren beiden Selbstanteilen zu nähern und schliesslich mit ihnen zu verschmelzen. Das fühlte sich neu und ungewohnt aber sehr gut an.

Beziehung zur Stieftochter

Nun konnte sie gelassen auf ihre Stieftochter schauen. Die Überprüfung ergab, dass sie geglaubt hatte mehrere Rollen in deren Raum übernehmen zu müssen: die bessere Mutter, ihr Selbst und schliesslich auch die Rolle des Lotsen auf ihrem Boot.

Sie konnte aus diesen Rollen „aussteigen”, sich mit ihren Selbstanteilen verbinden und ihren Raum symbolisch gegenüber der Stieftochter abgrenzen.

Kommentar

Nach diesem Prozess – er dauerte 30 Minuten – war jeder Hass verschwunden, sie hatte sogar ein gewisses Mitgefühl mit ihrer Stieftochter. Dies ist ein eindrucksvolles Beispiel für die bekannte Dynamik, dass – bei fehlender Abgrenzung – die Überanpassung (Verschmelzung) mit dem Gegenüber in Überabgrenzung umschlagen kann, dass (symbiotische Pseudo-) „Liebe” sich in Hass verwandelt. Und dass durch ein gelungenes Abgrenzungstraining der Hass aufgelöst werden kann.