EINFÜHRUNG

Systemaufstellungen besitzen ein unerwartetes diagnostisches und therapeutisches Potential. Sie sind besonders gut geeignet, um Symbiosemuster festzustellen, auf eine neue Art zu verstehen und zu erforschen und schliesslich auch zu lösen.

Der Klient stellt Repräsentanten für sich und seine ersten Bezugspersonen, aber auch für abgespaltene Selbstanteile auf. Dies Aufstellungsbild macht die Beziehungen zwischen Personen, aber auch zwischen Personen und ihren Selbstanteilen sichtbar.

Dank der repräsentierenden Wahrnehmung spiegeln die Repräsentanten die Gefühle derer wieder, die sie vertreten. So werden die prägenden ersten Beziehungen wieder lebendig. Es wird sichtbar, ob der Klient mit einem oder mehreren Familienmitgliedern symbiotisch identifiziert war , ob und wie sehr er dadurch von eigenen Selbst-Anteilen getrennt war. Identifikationen können durch Lösungs-Dialoge in ihrem Ausmass evident gemacht und gelöst werden. Schamanische Rückgabe-Rituale lassen deutlich werden, in welchem Ausmass der Klient eigene Anteile beim anderen gelassen, bzw. fremde Last übernommen hat. Diese Vermischung ist ein wesentlicher Aspekt der fehlenden Grenze bei Symbiotischer Identifikation. Diese Rituale erlauben eine symbolische Entmischung, als ersten Schritt hin zu einer Abgrenzung. Schamanische Abschieds- und Abgrenzungs-Rituale machen bestehende „symbiotischen Verklebungen“ evident und ermöglichen den zweiten Schritt: Distanz und flexible Abgrenzung.

In einem dritten Schritt ist der Klient nun frei, wieder Verbindung zu den abgespaltenen Selbstanteilen aufzunehmen.

Darüberhinaus ermöglicht dies Setting, Arbeitshypothesen hinsichtlich der Symbiose-Dynamik und ihrer Entstehung zu formulieren, die sofort überprüft, und in Lösungsstrategien umgesetzt werden können.

Bisher beobachtete ich Symbiosemuster besonders nach folgenden frühen Beziehungs-Konstellationen:

  • ein – oder beide – Elternteil(e) sind durch Gewalterfahrung oder eigene frühe Verluste traumatisiert,
  • Erfahrung von körperlicher oder seelischer Gewalt bzw. sexuellem Übergriff durch ein Elternteil oder einen anderen Erwachsenen – „symbiotische Identifikation mit dem Täter“
  • unbewusste Verbindung zu einem früh gestorbenen oder abgegangenen Geschwister.

In manchen Fällen von besonders ausgeprägten Symbiosemustern kam es durch Systemaufstellungen zwar zu Teilerfolgen, aber nicht zu einer grundsätzlichen Lösung des Symbiosemusters.

Die Klienten kamen wieder!

Das führte dazu, dass ich in den letzten Monaten auf zwei weitere typische Konstellation gestossen bin:

  • Frühe Trennung oder Verlust einer zentralen Bezugsperson, meist der Mutter oder des Vaters, gelegentlich auch einer besonders nahe stehenden Grossmutter oder eines Grossvaters.

Wie beim Verlust eines Geschwisters geht es auch hier um einen frühen Verlust. Während dort jedoch eine unbewusste starke symbiotische Identifikation zu einem Familienmitglied besteht, „das man nie kennen gelernt hat“, handelt es sich hier um Angehörige, die der Klient bewusst erlebt hat, an die er sogar meist eine besonders starke Erinnerung bewahrt.

  • Frühes „anonymes“ Gewalttrauma (z.B. Bombenangriff) mit Selbstabspaltung und „kompensatorischer“ Verschmelzung mit einer Bezugsperson.

Während bei der Entstehungskonstellation „Gewalterfahrung“ die symbiotische Verschmelzung mit dem Täter – z.B. dem Vater – erfolgt, ist es bei „anonymer“ Gewalterfahrung die Symbiose mit einer nahen Bezugsperson, die selber für die Gewalterfahrung nicht verantwortlich ist.

Diese Varianten weisen einige Besonderheiten auf.

Dazu einige Fallbeispiele mit Kommentaren.

A) FALLBEISPIELE FRÜHE TRENNUNG VON EINER BEZUGSPERSON

BEZIEHUNGSSUCHT“ (30.7.2009)

Anliegen

N., eine 27-jährige Frau kommt zur Beratung. Sie gerät immer wieder in extreme Abhängigkeitsbeziehungen. Sie fühlt sich ohne den anderen schlecht, unvollständig, hat massive Verlustängste. Sie versucht daher, den anderen durch Manipulationen zu binden, ihn abhängig zu machen.

Der aktuelle Partner, 45 Jahre alt, hat sich nach 20 Jahren Ehe getrennt, kann sich aber nicht für eine neue Bindung entscheiden.

Vorgeschichte

HF: mit ca. 10 Jahren abrupte Trennung von der sehr geliebten Mutter. Der Vater verbot den Kontakt zur Mutter und missbrauchte seine Tochter später sexuell.

In mehreren Aufstellungen wurden die Symbiosemuster in der Beziehung zum Vater und zu den Partnern sichtbar und “gelöst”.

Aber die Abhängigkeit zum Partner blieb, bekam immer mehr den Charakter einer Hörigkeit, einer Sucht.

Die Beziehung zur Mutter wurde noch nicht aufgestellt, da zu ihr wieder eine “gute Beziehung” bestehe.

Arbeitshypothese

Ich habe wiederholt die Erfahrung gemacht, dass heftige Symbiosemuster bisweilen Folge einer frühen Trennung von einer sehr wichtigen Bezugsperson sein können. Und dass das Symbiose-Muster sich erst löst, wenn diese frühe Beziehungsunterbrechung untersucht und gelöst ist. Deshalb schlug ich N. vor, die Beziehung zur Mutter zu untersuchen.

Aufstellungsbild

M stellte, mit Stühlen als Repräsentanten, ihre N. halblinks ca. 2m von sich entfernt auf, den Blick an ihr vorbei.

Ihr “starkes” Selbst war nahe bei ihr, das “kindliche” einige Meter entfernt.

Zur Klärung der Beziehung stellte ich die Mutter ihr gegenüber in etwa 3m Entfernung und legte einen Schal zwischen sie und die Mutter – Symbol für die Grenze.

Sie hatte nie Hass auf die Mutter, die immer liebevoll und ihr zugewandt war. Aber sie hatte ihr zum Vorwurf gemacht, sie beim Vater gelassen, sie nicht vor ihm beschützt zu haben.

“Mama das war so schlimm für mich. Dafür war ich dir böse. Und ich stehe dazu!”

Sie wird traurig, und kann diese Sätze mit Überzeugung sagen.

Die Überprüfung der Symbiose ergibt, dass sie sich auf Mutters Platz gut fühlt, sie kann die Mutter gut verstehen.

Lösung der Symbiose

Sie “steigt” aus der Mutter aus, geht an ihren eigenen Platz und kann zur Mutter sagen: “Mutter das ist dein Platz und dein Schicksal, du bist du und ich bin ich, du lebst dein Leben und ich meines. Und mein Leben darf anders sein als deins!”

Diese Sätze fühlen sich irgendwie ungewohnt an, aber sie kann sie ohne Schwierigkeiten sagen und fühlt sich danach freier, erleichtert.

Als nächstes gibt sie der Mutter, symbolisiert durch einen Kieselstein dass zurück, was sie vielleicht unbewusst von deren Schicksal tragen wollte.

Auch das fühlt sich für sie fremd an, aber sie kann de Stein bei der Mutter lasse und fühlt sich erleichtert.

Leiter: „Kann es sein, dass du mit der Trennung von der Mutter auch den Teil von dir verloren hast, der sich frei, unbeschwert und unschuldig fühlt? Sozusagen deine Kinderseele?“

Ihr kommen die Tränen, sie nickt.

“Willst du diese Energie, die eigentlich zu dir gehört, wieder zurück?“

Sie nickt heftig.

Der Leiter haucht ihr symbolisch ihre eigene Energie, von der sie damals getrennt wurde, zurück, in die Herzgegend, in den Scheitel, in den Rücken.

Sie spürt nach, richtet sich auf und ihr Gesicht hellt sich auf.

Verbindung mit den Selbst-Anteilen

“Spürst du Verbindung zu deinem starken und zu deinem kindlichen Selbst?“

Sie nickt, geht auf ihr starkes Selbst zu, repräsentiert durch einen Stuhl und ein rundes rotes Kissen, und nimmt das starke Selbst – symbolisiert durch das Kissen – zu sich. Sie spürt Schmerzen im Bauch.

„Vielleicht musst du erst deine Grenze zur Mutter schützen, deinen eigenen inneren Raum aufbauen, um ganz mit diesem Teil von dir verbunden zu sein?“

Sie nickt.

„Ist es für dich o.k., wenn ich deine Mutter vertrete?“

Sie nickt.

Abgrenzung zur Mutter

Sie ist bereit, ihre “Grenze” gegenüber der Mutter symbolisch zu schützen. Anfangs noch zögerlich, dann immer eindeutiger.

Diese Kraft, sich zu schützen, bringt sie selbst mit einem Löwen in Verbindung.

Nach diesem Abgrenzungs-Ritual kann sie sich mit ihrem “starken Selbst” verbinden, ohne Bauchschmerzen. Und endlich auch mit dem “schwachen” Teil, dem “inneren Kind”, für das sie sich oft geschämt hat.

Es ist so, als ob dadurch etwas zusammenkommt, was zusammengehört, als ob sie wieder vollständig würde.

Kommentar:

Die Anfangshypothese, N. sei mit ihrer Mutter, von der sie früh getrennt wurde, symbiotisch verbunden, konnte bestätigt werden.

Ich vermute folgende Zusammenhänge: N. hat ihre eigene Lebendigkeit, Liebe, Fröhlichkeit zum ersten mal in der Beziehung mit ihrer Mutter erlebt. Für sie ist das Schöne, was sie erlebt hat, so mit der Mutter verbunden, als könne sie es ohne die Mutter nicht erleben, so als wäre es nicht ihr Eigenes.

Um dies Wertvolle nicht zu verlieren, bleib sie unbewusst mit der Mutter verbunden, als wäre die Mutter ein Teil von ihr oder umgekehrt, sie ein Teil der Mutter.

Das heisst, sie konnte sich selbst nicht als vollständig, als von der Mutter getrennt wahrnehmen.

So als verwechselte sie die Mutter – oder einen Teil der Mutter – mit ihrem eigenen Selbst, ohne das sie sich nicht vollständig fühlen können.

Mit anderen Worten: Da es ihr nicht möglich ist, zur Mutter eine Grenze aufzubauen, ohne die Verbindung mit dem Wertvollen zu verlieren, verzichtet sie lieber auf die Grenze.

Und das wird Modell für spätere Beziehungen, besonders für intime, für Liebesbeziehungen!

Ihre spätere Liebesbeziehungen entstehen nach diesem Modell: sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie selbst in der Beziehung von ihrem Selbstanteilen abgespalten ist und den Partner mit ihrem Selbst verwechselt.

DAS IST DAS MUSTER VON ABHÄNGIGKEIT UND KOABHÄNGIGKEIT!

Diese Dynamik ist unbewusst.

Und sie kann so heftig sein wie Drogensucht.

Auf Grund dieser Überlegungen möchte ich folgende Hypothesen formulieren, die durch weitere Aufstellungsbeispiele überprüft werden können.

I: Kinder können anscheinend das Wertvolle, was sie in ihren ersten Beziehungen erleben, nicht immer als etwas Eigenes wahrnehmen, sondern als Teil des Anderen?!

II: Bei früher Trennung von einer Bezugsperson droht die Verbindung zu diesen ersten wertvollen Erfahrungen verloren zu gehen. Um das zu verhindern(?), bleiben Kinder bisweilen mit dieser Person symbiotisch verbunden, so als seien sie ohne die verlorene Person nicht vollständig, so als müsse diese Person ihnen ihr Selbst ersetzen. Sie können sich gegenüber dieser Person nicht flexibel abgrenzen!

III. Klienten mit dieser Überlebensstrategie sind in ihrer Fähigkeit, später eine flexible Abgrenzung zu anderen, z.B. zu einem Partner aufzubauen, entscheidend beeinträchtigt.

IV: Spätere (Liebes-)Beziehungen wiederholen sich daher nach dem gleichen Muster. Die Betroffenen haben den Eindruck, nur in der Symbiose mit dem Partner Intimität und Sexualität erleben zu können, nur mit ihm zusammen vollständig zu sein. So als hätten sie nicht die Fähigkeit, Intimität und Sexualität in einer abgegrenzten Verfassung des „bei sich selber seins“ zu erleben.

V: Dies symbiotische Beziehungsmuster kann nur (?!) dadurch gelöst werden, dass die symbiotische Identifikation mit der früh verlorenen Bezugsperson gelöst wird!

„ICH FÜHLE MICH IN MEINER ARBEIT WIE IN EINEM GEFÄNGNIS“ (12.7.2009)

Anliegen

W., eine 45-jährige Frau, hat ein sehr ausgeprägtes Symbiosemuster. Sie hat bereits in mehreren Aufstellungen die Beziehungen zu den Eltern und zu früheren Partnern geklärt.

Ihr aktuelles Anliegen: sie hat seit 12 Jahren ein Arbeitsverhältnis. Seit 7 Jahren fühlt sie sich dort immer weniger wohl. Sie leidet unter den Menschen dort, unter den Geräuschen, unter dem Licht. Sie fühlt sich wie gefoltert.

Aber: sie kann nicht kündigen. Sie bringt es einfach nicht fertig.

Im Vorgespräch fragt sie der Leiter, ob es in ihrer Familie jemanden gibt, der gefoltert wurde, der im Gefängnis war. Und plötzlich fällt ihr der Grossvater ein.

Er war in russischer Gefangenschaft gewesen.Sie war seine Lieblingsenkelin, sein Sonnenschein. In einer sehr belasteten Familie war ihre Beziehung zum Grossvater etwas Besonderes.

Und als sie ihn mit 5 Jahren durch Tod verlor, war das für sie ein grosser Verlust.

War sie noch mit ihm verschmolzen? Hatte sie sich von ihm noch nicht verabschiedet?

Aufstellung

Der Leiter fordert sie auf, sich im Raum einen Platz zu suchen und zu schauen, ob sie sich selbst, ihre Fussohlen, ihre Atmung, spüren kann.

Als ihr das gelingt, bestimmt sie einen Stellvertreter für den Grossvater und zeigt auf den Platz, auf dem er im Raum steht: etwa drei Meter schräg vor ihr.

Sofort kommen ihr die Tränen, spürt sie eine grossen Schmerz, sie kann sich selbst nicht mehr spüren!

Sie wählt einen Repräsentanten für ihr Selbst, für den Teil, „der sich frei und unbeschwert, der sich auch ohne Grossvater vollständig fühlt“, und sie stellt ihn weit entfernt von sich, das Gesicht abgewandt.

Symbiotische Identifikation mit dem Grossvater

Auf Grossvaters Platz fühlt sie sich wohl, geborgen, zuhause.

Offensichtlich befindet sie sich noch „auf Grossvaters Boot“.

Und die Vorstellung, dort „aussteigen“ zu sollen, scheint ihr unmöglich.

Erste Annäherung an ihr „Selbst“

Ihr „Selbst“ spürt sie nicht, vermisst sie auch nicht, so als hätte sie es nie gekannt.

Der Leiter: „Aber es gehört zu deiner Grundausstattung dazu!

Und erst, wenn du sich wieder mit ihm verbindest, kannst du deinen Arbeitsplatz verlassen – oder aufhören , ihn wie ein Gefängnis zu erleben!“

Sie bleibt auf Grossvaters Platz stehen.

„Vielleicht kennst du ja doch diesen Teil von dir, bist ihm schon einmal begegnet, vielleicht heimlich, vielleicht im Traum, in einem Roman, in deinem Film?“

Sie stutzt, ihr Gesicht hellt sich auf, und sie nickt verschämt.

„Magst du nicht mehr mit diesem Teil verbunden sein?“

Sie nickt, blickt erwartungsvoll zu ihrem Selbst.

„Magst du es kennen lernen, es spüren? Es gehört nur zu dir, ohne dich kann es sich nicht entfalten! Oder scheint es dir gefährlich, so als würde dich dann keiner mehr mögen?“

Sie schüttelt den Kopf und geht zögernd auf ihr Selbst zu, das sie erwartungsvoll und freundlich anschaut, nimmt es bei der Hand – und zögert.

„Solange du noch mit deinem Grossvater identifiziert bist, kannst du vielleicht nicht mit diesem Selbst verbunden sein?“

Sie nickt und wendet sich wieder dem Grossvater zu.

Lösen der Identifikation

Sie versucht, die Sätze nach zu sprechen: Du bist du, ich bin ich. Du hattest dein Schicksal, ich habe mein Schicksal, und es darf anders sein als deines!

Sie stockt, als wäre ihr das unmöglich, zu schmerzvoll. Die Tränen überfluten sie wieder.

Der Leiter fragt sie, ob er mit Hilfe der Trommel versuchen soll, sie aus der Verschmelzung zu lösen. Sie nickt, verzweifelt.

Der Leiter lässt sie zurück an Grossvaters Platz, in die Verschmelzung mit ihm, und geht dann, die Schmanentrommel kräftig schlagend, um sie herum. lässt sie zurück an „ihren“ Platz und geht noch einmal um sie mit der Trommel herum.

Anschliessend schlägt er mit dem Schlegel symbolisch auf ihren Bauch und lässt sie dieselben Sätze zum Grossvater noch einmal sagen.

Und diesmal ist es möglich, die Tränen versiegen, ihr Gesicht entspannt sich.

Lösen der symbiotischen „Vermischung“

Schrittweise gibt sie dem Grossvater das zurück, was zu ihm gehört: sein Schicksal symbolisiert durch einen schweren Kieselstein. Der Grossvater nimmt es gerne, wie erleichtert, „Das ist meins und ich möchte gar nicht dass du das trägst!“

Seinen Schmerz, seine Demütigungen in der Gefangenschaft, die sie getragen hat, als wären es ihre eigenen, haucht sie ihm aus der Ferne symbolisch zurück.

Und die Selbst- („Seelen-“)Anteile, die sie bei ihm gelassen hat, lässt sie sich von ihm in ihr Herzchakra zurück hauchen.

Das Glück, das sie mit ihm erlebt hatte und das sie mit ihm verloren glaubte, so als gehöre es zu ihm und nicht zu ihr, darf wieder zu ihr zurück.

Nun fühlt sie sich erleichtert und wieder „vollständig“. Nun kann sie sich ihrem Selbst zuwenden, das bereits ein Stück auf sie zugegangen ist, so als spüre es, dass es erst jetzt eine „Chance“ bei ihr hat.

Verbindung mit dem Selbst

Wie befreit geht sie auf ihr Selbst zu, umarmt es innig, als habe sie einen lang verloren geglaubten nahen Freund wieder gefunden.

Sie strahlt, zum ersten Mal.

„Magst du dem Grossvater dein Selbst zeigen?“

Sie nickt strahlend und geht mit ihrem Selbst auf den Grossvater zu:

„Das ist mein Selbst, der Teil, dem es auch ohne dir gut gehen darf. Und ab heute stehe ich dazu!“

Der Grossvater freut sich mit ihr.

Abgrenzung zum Grossvater

„Wenn du mit deinem Selbst verbunden bleiben möchtest, musst du eine Grenze aufbauen, einen geschützten inneren Raum errichten, in dem du ganz du selbst sein kannst, unabhängig davon, was die anderen davon halten!

Glaubst du, du kannst das?“

Sie stutzt, schaut erst zögernd zum Grossvater, dann nickt sie, fest entschlossen.

Und der Grossvater „testet“, ob sich seine Enkelin von ihm abgrenzen kann.

Bei jedem mal geht es besser und schlieslich stürzt sie sich wie ein Tiger auf den Grossvater, um ihre Grenze zu schützen.

Dem Grossvater gefällt es offensichtlich, wie seine geliebte Enkelin immer mehr zu sich, zu ihrer Kraft kommt.

„Magst du spüren, wie dein Grossvater dich liebt, wenn du so bei dir bist?“

Sie nickt, geht auf ihn zu und beide umarmen sich fest und lange.

Abschied vom Grossvater

„Offensichtlich konntest du dich damals nicht von deinem Grossvater verabschieden. Glaubst du, dass du das jetzt nachholen kannst?“

Sie überlegt einen Augenblick, und nickt dann, entschieden und klar.

Sie spricht die Sätze: „Grossvater, vielleicht habe ich dich unbewusst durch meine Trauer, durch mein Leiden, durch meinen „Gefängnisaufenthalt“ in deinem Leiden fest gehalten.

Für dich ist es schon lange vorbei. Du darfst jetzt dahin gehen, wo es kein Leid und keine Gefangenschaft mehr gibt, wo du endlich deinen Frieden finden kanst. Wo wir alle herkommen und wohin wir alle einmal zurückkehren!“Jetzt kann sie ihn loslassen. Aber der Grossvater zögert noch.

Leiter zum Grossvater: „kann es sein, dass ein Teil von dir bei deiner lieben Enkelin geblieben ist?“

Der Grossvater nickt. Und nun haucht W. ihm das in sein Herzchakra zurück, was er damals noch bei ihr gelassen hat.

Nun fühlt er sich frei, zu gehen.

Er gibt G. noch seinen Segen: „Lebe deine Kraft, deine Fröhlichkeit, du bist frei!“

Und begleitet vom sanften Schlag der Schamanentrommel kann er nun dahin gehen, wo er seinen Frieden findet.

L.: Jetzt hast du ihn verabschiedet. Und es kann sein, dass erst jetzt der Abschiedsschmerz kommt. Aber es ist ein heilsamer Schmerz, der dich frei macht für etwas Neues!

G. nickt, Tränen in den Augen, aber glücklich.

Kommentar

Es ist offensichtlich, dass sich W. nicht von ihrem geliebten Grossvater verabschiedet hat. Es ging nicht, da sie von ihm noch nicht getrennt war, und sie sonst vielleicht mit ihm gestorben wäre.

So als gehöre das Glück, das sie mit Grossvater erlebt hat, nicht zu ihr, sondern zu ihm. So als habe sie „ihre Kinderseele“ bei ihm gelassen. Und als hiesse Abschied vom Grossvater, sich endgültig von all dem zu trennen!

Symbiotische Identifikation erscheint hier als eine Überlebensstrategie bei frühem Verlust eines geliebten Angehörigen.

Der Preis ist jedoch,

  • dass der Betreffende eine eigene Grenze, einen eigenen „geschützten Raum“ nicht errichten kann,
  • dass sein „Schutzreflex“, der diesen Raum schützt, blockiert ist.
  • Dass er die Verbindung zum Eigenen verliert. Und
  • dass er dadurch etwas Fremden den „inneren“ Raum zu Verfügung stellt, als wäre es sein Selbst. Ursprünglich dem Grossvater, später auch anderen, den Eltern, einem Partner, einem Kind.

Meine Vermutung: die besonders heftige Abgrenzungsproblematik bei W. könnte durch den frühen Verlust des Grossvaters bedingt sein. Die späteren symbiotischen Beziehungen zu den Eltern, den Partnern waren wie Wiederholungen, haben das Muster noch verstärkt.

Weil die Erfahrung mit dem Grossvater ihr unmöglich gemacht hat, Abgrenzung zu erlernen, ohne die Erlebnisse mit dem Grossvater – d.h. den kostbarsten Teil ihres „Selbst“ – zu verlieren?!

Das Lösen der Symbiose in den verschiedenen Beziehungen war zwar erleichternd, aber es löste noch nicht das Muster an sich.

Darüber hinaus wird in diesem Beispiel deutlich, dass die Identifikation mit einem fremden Schicksal bisweilen die Wirkung hat, dass man buchstäblich „im Film“ des anderen ist, dass man die eigene Lebenssituation „mit den Augen des Anderen sieht.“

So als können man dadurch noch mit der geliebten Person verbunden bleiben, dass man dasselbe Schicksal, dasselbe Leid erlebt, das sie erlebt hat?

Dieser Aspekt könnte bestimmte paranoide Wahrnehmungsstörungen bei Psychosen erklären.

B) FALLBEISPIELE „ANONYMES“ TRAUMA UND SYMBIOSEMUSTER

Unter „anonymem“ Trauma verstehe ich ein Trauma, wie Verbrühung oder Bombenangriff, das nicht durch die Einwirkung einer nahen Bezugsperson verursacht wurde.

„VERLASSENHEITSÄNGSTE“

Anliegen

Bi, 60 begleitet ihren Mann zum Aufstellungs-Seminar, der wegen einer unerklärlichen Erkrankung aufstellen möchte. Sie selbst wollte zunächst gar nicht selbst aufstellen, bittet dann aber doch um eine Aufstellung: Sie habe massive Ängste, ihren Mann zu verlieren, verstärkt seitdem er diese unerklärliche Erkrankung hat.

Vorgeschichte

Durch eigene Psychotherapie ist ihr Vieles klar geworden: Als Säugling erlebte sie einen Bombenangriff auf dem Arm der Mutter, die dabei vor Angst beinahe gestorben sei. Sie kam dann mit Mutter und Schwester zu den Grosseltern auf’s Land. Bei weiteren Bombenangriffen war sie jeweils auf dem Arm des Opas, dort fühlte sich sicher und geborgen.

Mit zwei Jahren kam sie zurück in die Stadt, bald kam der Vater aus dem Krieg zurück. Aber er konnte ihr diese Geborgenheit nicht geben.

Als der Grossvater starb, konnte bzw. wollte sie sich von ihm nicht verabschieden!

Bei ihrem jetzigen Mann finde sie ebenfalls diese Geborgenheit. Durch seine Erkrankung aber, durch die Vorstellung, ihn verlieren zu können, wurden die alten Ängste wieder ausgelöst.

Obwohl ihr diese Zusammenhänge bewusst geworden sind, haben sich ihre Ängste nicht gebessert.

Arbeitshypothese

Die Bombenangriffe im Krieg waren ein unglaubliches Trauma: die Betroffenen erlebten Zerstörung und Ohnmacht in einem bisher unbekannten Ausmass. Nicht selten wurden in wenigen Stunden ganze Stadtteile in Schutt und Asche gelegt, nächste Angehörige verschüttet, bisweilen vor den eigenen Augen der Klienten.

Kinder sind dieser Panik noch mehr ausgesetzt als die Erwachsenen. Wenn diese – im Beispiel die Mutter – selbst von Panik überflutet werden, verstärkt das noch die Panik des Kindes, weil es dann den Schutz der Bezugsperson verliert, so als verlöre es diese Person. Ein doppeltes Trauma, das geeignet ist, die Dissoziation, die Abspaltung von Selbst-Anteilen auszulösen oder zu verstärken, z.B. von dem Teil, der Angst, Verlasssenheit, Verzweiflung und Wut spürt.

Die kleine Bi. hatte ein derartiges doppeltes Trauma erlebt. Für sie war daher der Grossvater mit seiner Ruhe und Gelassenheit so wichtig. Um zu überleben, spaltete sie ihr Selbst ab, verschmolz unbewusst mit dem Grossvater, verband sich mit dessen „erwachsenen“ Selbstanteil, als könnte sie dadurch ihr Eigenes ersetzen, von dem sie abgespalten war.

Das erinnert an die Strategie des Einsiedlerkrebs, um sich zu schützen kriecht er in ein leerstehendes Schneckenhaus. Wenn ihm das zu klein wird, sucht er sich ein grösseres. In dieser Zwischen-Phase ist er besonders schutzlos und ausgeliefert.

Bi.’s Situation könnte man ähnlich verstehen: getrennt von Selbstanteilen ist sie schutzlos und „schlüpft“ daher unbewusst (!) in einen anderen, von dem sie sich Schutz erhofft: zunächst den Grossvater, später den Ehemann.

Das macht sie von ihm abhängig und erklärt ihre Verlustängste, die durch seine Erkrankung verstärkt werden. Die abgespaltenen Gefühle von Angst, Verlassenheit, Ausgeliefertsein, bisher in der Symbiose „gebunden“, werden frei und überfluten sie.

Obwohl die Ängste aktuell in der Partnerbeziehung aufgetreten sind, entschliesst sich der Leiter, die Beziehung zum Grossvater zu klären.

Aufstellung

Bi. stellt ihren Grossvater auf, sich selber dicht daneben. Ihren „starken“ Selbstanteil stellt sie ca. 2 m entfernt hinter sich, den „kindlichen“ Anteil ganz weit weg in eine Ecke.

Der Repräsentant dieses „kindlichen“ Teils von ihr spürt zu ihr keinerlei Verbindung.

Der Leiter legt einen Schal als Symbol für eine Grenze zwischen sie und den Grossvater: da fühlt sie sich unwohl, ängstlich, alleine.

Als sie Grossvaters Platz einnimmt, fühlt sie sich sicher und wohl. Als sei sie dort zuhause.

Die Eingangshypothese wird also durch diese Aufstellung bestätigt.

Lösung der Symbiose mit dem Grossvater

Bi. „steigt“ aus dem Grossvater aus und sagt zu ihm die Abgrenzungssätze: Du bist du, ich bin ich, du hast dein Leben gelebt, ich lebe mein Leben…..

Die Tränen kommen ihr, sie stockt, als sei sie dadurch alleine, ausgeliefert.

Der Leiter fragt: Kann es sein, dass ein grosser Teil von dir noch beim Grossvater ist? Möchtest du das, was zu dir gehört, wieder zurück haben?

Sie nickt heftig, unter Tränen.

Der „Grossvater“ ist gerne bereit, ihr das symbolisch in die Herzgegend zurück zu hauchen, was „zu ihr gehört“.

Sie braucht einen ganze Menge, dadurch wird sie nach und nach ruhiger.

Nun kann sie die Sätze ruhig und mit Kraft aussprechen.

Annäherung an ihre Selbst-Anteile

Der Leiter: „kennst du überhaupt den Teil von dir, der sich auch ohne den Grossvater sicher fühlen kann, der frei und unbeschwert ist?“

Sie schüttelt zunächst den Kopf.

„Vielleicht kennst du ihn ja heimlich?“

Zum ersten mal huscht ein verräterisches Lächeln über ihr Gesicht.

„Dieser Teil gehört unverlierbar zu dir, er gehört zu deiner „Grundausstattung“.

Wie wäre es, wenn du mehr Verbindung mit ihm hättest?“

Zögernd, mit fragenden Blick geht sie auf die Repräsentantin ihres „starken“ Selbst zu, die sie freundlich ansieht.

Ein fragender Blick zum Grossvater, so als wäre es wie Verrat, als bräuchte sie seine Zustimmung, wenn sie sich ihrem Selbst nähert.

Der Grossvater nickt zustimmend.

Vorsichtig nähert sie sich dem Selbst, umarmt es zunächst zaghaft, dann immer sicherer.

Es ist spürbar, wie ihre Ruhe, ihre Kraft zunimmt.

Ihr kindliches Selbst steht immer noch in der Ecke, es hat sich zu ihr gedreht und schaut sie erwartungsvoll an.

„Da hinten steht dein kindliches Selbst, das sich an all das Schreckliche der Bombenangriffe erinnert.Magst du diesen Teil von dir?“

Sie schüttelt heftig den Kopf.

„Es war damals so hilflos und verzweifelt. Es braucht gar nicht viel. Nur, dass du es in den Arm nimmst!“

Berührt geht sie, zusammen mit ihrem „starken Selbst“ auf ihr „inneres Kind“ zu, nimmt es bei der Hand, zögert noch einmal kurz und nimmt es dann liebevoll in den Arm. Noch einmal Tränen, Schluchzen.

„Magst du spüren, wie es sich anfühlt, mit beiden Selbst-Anteilen gleichzeitig verbunden zu sein?“

Sie nickt und sie und die beiden Selbstanteile umarmen sich gegenseitig.

„Beides gehört zu dir, du musst es nicht merh vertecken!“

Magst du dem Grosssvater dein Selbst zeigen?

Sie nickt und mit einem Anflug von Stolz führt sie ihre neu gewonnenen Selbstanteile zu ihm.

Grossvater, so kennst du mich noch gar nicht, das ist mein eigenes Selbst, mein Selbstvertrauen! Der Teil von mir, der sich auch ohne dich vollständig und sicher fühlen kann!Und das ist der Teil von mir, der Gefühle von Angst haben kann, ohne dass ich in Panik gerate!“

Der Grossvater strahlt, als habe er sich das immer gewünscht!

Abgrenzung zum Grossvater

Der Leiter zu Bi.: Zwischen dir und dem Grossvater gab es keine Grenze. Wenn du gut mit deinem Selbst verbunden bleiben möchtest, musst du eine Grenze schaffen zum Grossvater, einen sicheren inneren Raum, indem du ganz du selbst sein kannst, unabhängig davon, was andere denken!

Nachdenklich wandert ihr Blick vom Grossvater zu ihrem Selbst und wieder zurück.

Sie nickt zustimmend.

Der „Grossvater“ ist bereit, auf seine Enkelin zu zu gehen, ihr dadurch die Chance zu geben, ihre Grenze ihm gegenüber zu schützen. Er nähert sich langsam der „Grenze“ – einem am Boden liegenden Schal – Si. steht zwei Meter hinter der Grenze, blickt ihn liebevoll an, lässt ihn über die Grenze gehen und versucht erst dann, ihn halbherzig zurück zu weisen.

Der Leiter: „Eins zu Null für den Grossvater! Ich dachte, du wolltest deine Grenze schützen?“

Bi.:Ich kann nicht, es fühlt sich so ungewohnt an, als wäre es lieblos, undankbar oder Verrat!

Dies Phänomen, das man als unbewusstes Abgrenzungsverbot bezeichnen könnte, findet sich regelmässig bei heftigen Symbiosemustern! Es scheint so etwas wie der „Kristallisationskern“ des Symbiosemusters zu sein, um den herum sich die Symbiosesymptomatik entwickelt.

An diesem Punkt des Aufstellungsprizesses ist der Leiter gefordert, den Klienten über die ihm unbewussten Zusammenhänge aufzuklären.

Der Leiter: „dies Gefühl ist Folge einer Verwirrung. Es hält dich im Symbiosemuster fest. Wenn du dich befreien willst, musst du dich trotz dieses Gefühls von Verbot oder gar Schuld abgrenzen.

Wenn du dich in dieser Situation nach deinem verwirrten Gefühl orientierst, bleibst du in der Verwirrung. Hier ist es erforderlich, sich nicht nach „dem Bauch“, sondern nach seiner Einsicht, nach „dem Kopf“ zu entscheiden!

Abgrenzen ist nichts Böses, Verletzendes, es ist nur gesund. Es ist nicht nur dein Recht, es ist deine Pflicht, dich selbst zu schützen. Du hast dein Selbst nicht bekommen, um es zu verstecken, sondern um es in deinem Leben zu entfalten!“

Bi. blickt ratlos. Aber sie ist entschlossen, sich zu befreien.

Und bei den nächsten Versuchen gelingt es ihr immer besser, ihre Grenze zu schützen.

Es scheint ihr – und dem „Grossvater“ – fast Spass zu machen, wie ihre Kraft, ihre Entschiedenheit von mal zu mal zunimmt. Ihr bisher ängstliches Gesicht entspannt sich zu einem befreiten Lächeln. Ihre Haltung ändert sich, sie richtet sich auf, gewinnt an Selbst-Achtung, an Sicherheit, Selbstvertrauen, Würde.

Dies Phänomen markiert die entscheidende Phase des Lösungsprozesses! Man kann es als „Richtungsumkehr der Aggression“ verstehen. Die durch das „Abgrenzungsverbot“ blockierte gesund Aggression hatte sich „gestaut“, war destruktiv geworden, hatte sich gegen sie selbst gewendet: Selbst-Abwertung, Lähmung, Verstärkung der Panik.

Durch die Lösung des Abgrenzungsverbotes kann das Aggressionspotential sich wieder auf gesunde Weise in der Abgrenzung entfalten!

Bi. strahlt – und ihre Selbstanteile strahlen auch. Sie umarmt noch einmal ihre Selbstanteile, schaut zum Grossvater – und der Grossvater ist von ihr begeistert!

Liebevoll nimmt er seine Enkelin in die Arme. Und sie spürt in der Umarmung: so gefällt sie ihm ganz anders!

Abschied vom Grossvater

Bi. hatte sich vom Grossvater vor dessen Tod nicht verabschieden können. Nach dem, was wir jetzt verstehen nur zu verständlich. Sie war noch symbiotisch mit ihm verschmolzen, konnte sich nicht als getrennt von ihm erleben. Es wäre geradezu gefährlich für sie gewesen, seinen Tod mit zu erleben. Solange sie so symbiotisch mit ihm „verklebt“ war, hätte sie dabei selber sterben können!

Das Symbiosemuster ist immer(!) verbunden mit der Unfähigkeit, Abschied zu nehmen. Entgegen esoterischen Vorstellungen sind es nicht die Verstorbenen, die die Lebenden „in den Tod ziehen!“

Um die Lösung des Symbiosemusters zu abzuschliessen, ist daher noch ein Abschiedsritual erforderlich. Dabei hat es sich als hilfreich erwiesen, auf die in schamanischen Überlieferungen, aber auch in den deutschen Märchen (z.B. „das Totenhemdchen“) verbreitete archaische Vorstellung zurück zu greifen,

    • dass es für die Vertorbenen einen „guten Platz“ gibt, wo sie „ihren Frieden“ finden können, und
    • dass die Lebenden die Toten bisweilen daran hindern, diesen Frieden zu finden,
    • wenn sie die Verstorbenen unbewusst noch festhalten,
    • durch übermässige Trauer,
    • durch Vorwürfe oder auch Schuldgefühle bzw.
    • durch symbiostische Verschmelzung!

Der Leiter zu Bi: „Kann es sein, dass du deinen Grossvater unbewusst festgehalten hast?“

Sie nickt.

„Glaubst du, ihn jetzt gehen lassen zu können?“

Sie zögert, unter Tränen stimmt sie zu.

„Das ist jetzt der Abschiedsschmerz. Er ist heilsam, denn er öffnet dich für etwas Neues!“

„Möchtest du dich von ihm verabschieden?“

Sie nickt, geht auf den Grossvater zu, umarmt ihn zum Abschied, und geht einige Schritte zurück.

Der Grossvater lächelt ihr freundlich zu, auch ihm kommen die Tränen, aber er fühlt sich jetzt frei, zu gehen.

„Hättest du gerne noch seinen Segen?“

Ihr Gesicht hellt sich auf, sie nickt.

Der Grossvater gibt ihr den Segen: „Lebe dein eigenes Leben, lebe deine Kraft!“

Und der Grossvater, nach einer Weile, dreht sich um, geht dahin, wo er „seinen Frieden finden kann“.

KINDERWUNSCH

In diesem Fallbeispiel überlagern sich mehrere Dynamiken.

Anliegen

S., eine 25-jährige sehr weibliche und gefühlvolle junge Frau, offen und etwas kindlich, kommt zum Aufstellungs-Seminar, weil sie sich so sehr ein Kind wünsche. Der Gynäkologe habe Eileiterverklebungen festgestellt, habe schon einmal durchgepustet, aber es habe noch nicht geklappt. Dabei wünsche sie sich nichts mehr, als Mutter sein zu können!

Vorgeschichte

Sie ist die 3. von 4 Kindern. Vor dem ersten gab es einen Abgang.

Mit 6 Jahren erlitt sie lebensgefährliche Verbrühungen, musste für 4 Monate ins Krankenhaus.
„Wie ging es dir da?“

Sie habe schreckliche Schuldgefühle gehabt, dass sie der Mutter, die zu der Zeit mit dem 4. Kind hochschwanger war, soviel Sorgen gemacht habe.(!)

Keine Erinnerung an die eigenen Schmerzen, Ängste, Verlassenheit, Vorwürfe, Verzweiflung!

Arbeitshypothese

Die Vermutung liegt nahe, dass sie versucht hat, die frühe Trennung und die traumatischen Erlebnisse in der Klinik dadurch dadurch zu überleben, dass sie das verletzte „innere Kind“ mit seinen Erinnerungen und Gefühlen abgespalten hat. Um das zu kompensieren ist sie mit der Mutter identifikatorisch verschmolzen ist, um sich nicht alleine, schwach, verlassen und ausgeliefert zu fühlen. Dadurch ist jedoch die Enrwicklung ihrer Fähigkeit, sich flexibel abzugrenzen, entscheidend beeinträchtigt.

Aufstellung

Um diese Hypothese zu überprüfen, stellt sie sich selbst, und die Mutter und ihre beiden Selbst-Anteile durch Stellvertreter auf. Und sie sucht noch einen Repräsentanten für das erwünschte Kind aus!

Sie steht dicht der Mutter gegenüber, „eigentlich müsste ich in ihr stehen“ – der „starke“ Selbstanteil, der sich unbeschwert fühlen darf, steht 4 m entfernt hinter ihr, den „kindlichen“ Teil, der sich schwach und verletzt fühlend darf, kennt sie gar nicht(!?), ihn stellt sie buchstäblich hinter einen Paravent!

Das „kindliche“ Selbst spürt keine Verbindung zu ihr.

Auch das „Kind“ spürt keinerlei Beziehung zu ihr.

Der Leiter legt einen Schal als Symbol für eine natürliche Grenze zwischen Tochter und Mutter, da geht es ihr schlechter, so als halte sie es nicht aus, sich als getrennt von der Mutter zu erleben!

Als sie sich probeweise auf Mutters Platz stellt, fühlt sie sich so richtig wohl und strahlt!

Die Hypothese hat sich bestätigt, sie ist symbiotisch mit ihrer Mutter verschmolzen. Als Ursache – und gleichzeitig Folge – ist sie von ihren Selbstanteilen getrennt.

Lösungsprozess

Der Leiter erklärt ihr, dass sie vielleicht nach der Verbrühung in ihre Mutter „hineingeschlüpft“ sei, um den Klinikaufenthalt überleben zu können. Damit sei zwangsläufig verbunden, dass sie von ihren beiden Selbstanteilen getrennt war. Das wiederum habe sie daran gehindert, wieder aus der Mutter “auszusteigen“, sodass sie immer noch in der Mutter stecke, noch nicht an ihrem rechten Platz stehe: als Tochter.

In diesem Zustand könne sie aber weder Partnerin für ihren Freund noch Mutter für ein Kind sein.

Lösen der Symbiose, 1. Versuch

Obwohl sie sich „in der Mutter“ so wohl fühlt, ist sie – dem Kind zuliebe – bereit, „auszusteigen“. Sie stellt sich der Mutter gegenüber und sagt probeweise die „Abgrenzungs-Sätze“: „Mutter, das ist dein Platz und dein Schicksal. Du bist du, ich bin ich. Du lebst dein Leben und ich lebe……“

Sie kann die Sätze nicht zu ende sagen, sie schluchzt, hilflos wie ein verlassenes Kind, der Schmerz überwältigt sie.

Die Vorstellung, nicht mehr eins mit der Mutter zu sein, sondern ihr als eigenständiges, abgegrenztes Wesen gegenüber zu stehen, scheint ihr unerträglich.

Die Mutter wird vom Schmerz ihres Kindes angesteckt, ihr kommen auch die Tränen. Das macht Is. noch trauriger, Mutter und Tochter drohen in einem Meer von Schmerz und Tränen zu ertrinken, ein Teufelskreis!

Leiter: „Kann es sein, dass du einen Teil deiner Energie bei Mutter gelassen hast?“

Sie nickt.

„Möchtest du das zurück haben, was zu dir gehört? Magst du die Mutter bitten, dass sie dir die Energie zurück gibt, die zu dir gehört?“

Sie nickt.

Und die Mutter haucht ihr die Energie, die zu ihr gehört, zurück, in die Herzgegend.

Es ist eindrucksvoll, wie sie durch dieses schamanische Ritual innerhalb weniger Minuten ruhig wird, so als sei sie jetzt vollständiger, mehr bei sich.

Annäherung an das Selbst , 1. Teil

Der Leiter weist sie auf ihren Selbstanteil hin, der sich auch ohne die Mutter vollständig fühlt.„Dieser Teil gehört zu deiner Grundausstattung. Du hast ihn offensichtlich „vor die Türe“ geschickt, aber du kannst ihn nicht verlieren!“

Sie öffnet die Augen, ungläubig blickt sie zu diesem Teil, den sie völlig vergessen hatte, und zurück zur Mutter, so als würde sie die Mutter endgültig verlieren, wenn sie sich ihrem Selbst zuwendet.

Einem inneren Impuls folgend fragt der Leiter die Mutter, ob sie ihr Kind dabei unterstützen könne, wieder zu seinem Selbst zu finden.

Die Mutter ist erleichtert, sie nimmt ihr Kind bei der Hand und führt sie zu dem „Selbst“, das schon wartet, freundlich und voller Liebe. Die Mutter sagt zur Tochter: „Das ist dein Selbst, und ich hab dich auch lieb, wenn du mit deinem Selbst verbunden bist!“

Erleichtert geht Is. auf ihr Selbst zu, umarmt es innig, so als dürfe sie erst jetzt spüren, wie sehr sie es vermisst hat. Sie schluchzt noch einmal sehr heftig und beruhigt sich dann.

Lösen der Symbiose

S.’s Symbiose mit der Mutter ist so heftig, das sie sich nicht in einem Schritt lösen liess.

Der Leiter schlägt ihr vor, die Lösung durch die Schamanentrommel zu unterstützen. Sie nickt zustimmend.

Sie stellt sich noch einmal an den Platz der Mutter, Der Leiter geht um sie herum, kräftig die Trommel schlagend, sie “steigt aus“, geht über die symbolische Grenze an ihren Platz und der Leiter umrundet sie noch einmal mit der Trommel. Zum Schluss schlägt er mit dem Schlegel dreimal auf ihren Bauch und sagt ihr noch einmal laut und kräftig die Abgrenzungssätze zur Mutter vor.

Diesmal kann sie die Sätze zu Ende sagen, die Stimme bleibt kräftig.

Der Leiter weist sie noch einmal auf die Möglichkeit hin, statt mit der Mutter, mit ihrem Selbst zu verschmelzen. „Das ist viel gesünder!“

Und sie blickt ihr Selbst an, erstaunt und glücklich und umarmt es lange und voller Liebe. Sie strahlt!

Und die Mutter ist erleichtert.

Rückgabe-Ritual mit dem Stein

Leiter: „Du warst so mit deiner Mutter verschmolzen, dass du auch ihre Leid, ihre Sorgen um dich getragen hast, als wäre es dein Eigenes. Mehr noch, als wärest du selbst dafür verantwortlich.“

Is. nickt nachdenklich.

„Zur Lösung der Symbiose gehört, dass du das zurückgibst, was nicht zu dir gehört“!

Der Leiter gibt ihr einen schweren Kieselstein und schlägt ihr folgende Sätze vor:

Mama, das sind deine Sorgen. Ich habe sie getragen, als wären es meine Eigenen, ja als wäre ich dafür verantwortlich. Ich sehe jetzt, dass sie zu deinem Schicksal gehören! Und ich lasse sie bei dir!

Is. kann diese Sätze zunächst nicht nachsprechen, ihr Gefühl ist so ganz anders! Und es bedarf einer ausführlichen Erläuterung der Zusammenhänge, bis sie bereit ist, diese Sätze nach zusprechen und der Mutter symbolisch ihre Sorgen zurück zu geben.

Die Mutter ist sehr erleichtert: Kind das ist meins, und es muss bei mir bleiben. Ich möchte überhaupt nicht, dass du da was trägst!

Verbindung mit dem Selbst, 2. Teil

Der Leiter fragt sie, ob sie jetzt bereit sei, sich dem Teil zuzuwenden, der sich an die Schmerzen und an die Trauer erinnern kann, der sich verlassen und elend gefühlt hat. „Damals war niemand da, der dies verlassene Kind gesehen und getröstet hat, da war dir dieser Teil zu viel und du hast ihn „vor die Tür geschickt“. Dies Kind braucht nicht viel, nur, dass du es in den Arm nimmst! Inzwischen bist du ja eine erwachsene Frau!

S. richtet sich auf, zusammen mit ihrem „starken“ Selbst geht sie zu dem verlassenen Kind und nimmt es zärtlich in ihre Arme. Sie und das „verlassene Kind“ schluchzen, spüren noch einmal den alten Schmerz. Aber nach einigen Minuten wird sie ruhig. Sie spürt nun gleichzeitig beide Selbstanteile, sie fühlt sich vollständig.

Aufrecht und stolz geht sie auf ihre Mutter zu, zeigt ihr, dass sie jetzt mit ihrem Selbst verbunden, dass sie jetzt erwachsen ist!

Und auch die Mutter strahlt voller Stolz.Das hat sie sich so für ihre Tochter gewünscht!

Das „Kind“ schaut interessiert zu seiner „Mutter“, jetzt fühlt es sich von ihr angezogen!

Abgrenzungsritual zur Mutter

Der Leiter: „Zwischen dir und der Mutter gab es nicht die Spur von Grenze! Du kannst nur dann mit deinem Selbst verbunden bleiben, wenn es eine Grenze zwischen dir und deiner Mutter gibt! Bist du bereit, deine Grenze zur Mutter zu schützen? Bist du bereit, einen eigenen „geschützten Raum“ zu schaffen, in dem du du selber sein kannst – und vollständig, ganz egal, ob anderen das gefällt oder nicht?“
S. zögert. Diese Vorstellung ist ihr sehr fremd.
„Die Mutter kommt auf dich zu und du darfst sie in einem symbolischen Vollzug zurück schieben, noch bevor sie deine Grenze erreicht!“
S. zögert, aber sie sieht die Notwendigkeit ein.
Die „Mutter“ ist bereit, der Tochter die Chance zu geben, ihre Grenze zu schützen.
Langsam geht sie auf ihre Tochter zu. Diese wartet 1 m hinter der Grenze und erst im letzten Augenblick geht sie auf die Mutter zu, und versucht mit halber Kraft , sie aufzuhalten.
„Was hindert dich?“
Ich habe Angst, ihr weh zu tun, sie zu verlieren!
Die Mutter schüttelt den Kopf.
Der Leiter: „Das ist überhaupt nicht böse oder lieblos, das ist nur gesund! Nur so kannst du mit deinem Selbst verbunden bleiben, nur so kannst du Partnerin und Mutter sein!“
Beim zweiten Mal gelingt es ihr schon viel besser, fast scheint es ihr – und der Mutter – Spass zu machen!
„Welches Krafttier könnte dich bei der Abgrenzung unterstützen?“
Eine Löwin!
„Das ist ein kraftvolles Tier! Am besten kannst du dich schützen, wenn du bereits auf – statt hinter – der Grenze stehst und wenn du eine zehntel Sekunde startest, bevor die Mutter auf dich zu kommt!“
Und diesmal stürmt sie auf die Mutter los, wie eine Löwin, die ihr Junges schützt. Sie strahlt.

Beziehung zum Kind

Auch das Kind strahlt erwartungsvoll seine Mutter an!
Der Leiter prüft jetzt die Beziehung zum Kind, er lässt sie auf den Platz des Kindes stehen. Dort fühlt sie sich zu hause, so als stehe sie „im Boot“ des Kindes. Bzw. als nehme das Kind ihren ganzen inneren Raum ein, so dass für ihr Selbst kein Platz mehr bleibt!

Da ist sie wieder, die Verwirrung der Symbiose. Da sie mit ihrem eigenen Selbst nicht verbunden war, glaubte sie, das Kind müsse für sie ihr Selbst, ihr Lebenssinn, ihr Ein und Alles sein.

Anstatt mit ihrem Selbst war sie mit dem – ungeborenen – Kind identifiziert. Statt sich gegenüber dem Kind abzugrenzen, grenzte sich sich gegenüber ihrem eigenen „inneren Kind“ ab, als sei es bedrohlich.
Das erklärt ihren heftigen Kinderwunsch, bei dem es eigentlich gar nicht um das Kind geht, bei dem das Kind gar nicht seinen Platz haben kann, nicht Kind sein kann, da es „Ersatz“ für Mutters Selbst sein muss.

Man kann schon ahnen, wie sie gar nicht anders kann, als dies Kind über zu behüten, „wie den eigenen Augapfel“, ihm ihre eigenen massiven Verlustängste über zu stülpen.
Vielleicht ist das Kind deshalb bisher noch nicht gekommen?

Abgrenzung zum Kind

Der Leiter stellt zunächst einen Repräsentanten für das Selbst des Kindes neben das Kind, um bewusst zu machen, dass das Kind auch ohne sie vollständig ist.
Um die Grenze zum Kind aufzubauen, darf zunächst das Kind der Mutter gegenüber seine Grenze schützen, um S. deutlich zu machen, dass das Kind ein Recht auf Autonomie, auf eigene Grenze hat, dass das nicht böse, sondern sehr gesund ist, wenn es seine Grenze gegenüber der Mutter schützt.
Als nächstes zeigt S. wie sie ihre Grenze gegenüber dem Kind schützt.
Wieder kann sie zunächst nur zaghaft ihre Grenze schützen, als würde sie dadurch das Kind verletzen, es gar verlieren.
Der Leiter erklärt ihr, dass ihr Kind nur dann sich selbst entfalten kann, wenn es den Raum dazu hat, wenn es mit seinem Selbst – und mit der Mutter – verbunden sein kann.
Und wenn sie als „Löwenmutter“ ein starkes Löwenkind haben möchte, muss sie ihm die Chance geben, seine Kraft zu entfalten!
Das überzeugt sie, und voller Kraft schiebt sie ihr anstürmendes Kind zurück. Beide strahlen sich an, freuen sich über ihre Kraft.

..Mit dem Leben auch den Tod…

Der Leiter möchte S. ihre Illusion bewusst machen, dass ihr Kind besitzen könne, als sei es ein Teil von ihr.
Er sagt ihr: „Leben und Tod gehören zusammen. Mit dem Leben gibst du dem Kind auch den Tod. Bist du bereit, deinem Kind beides, symbolisiert durch diese Holzschachtel zu geben?“
Bevor sie noch antwortet, sagt der Repräsentant des Kindes – ein sehr „spüriger“ Therapeut -: ich fühle mich bedroht. Da fehlt noch das Geschwister der Mutter, das vor ihr abgegangen war.
Der Leiter greift diese Bemerkung auf und stellt einen Repräsentanten für das früh abgegangene Geschwister von S. auf.
Sie spürt zunächst keine Verbindung. Als sie sich auf seinen Platz stellt, fühlt sich das bekannt an, als sei es ihr Platz.
Offenbar war sie auch mit dem abgegangenen Geschwister identifiziert!
Nachdem sie sich durch Abgrenzungs- und Rückgaberituale – von dem abgegangenen Geschwister gelöst hat, kann sie sich noch besser mit ihren Selbstanteilen verbinden.
Und das Kind fühlt sich nicht mehr bedroht!

KOMMENTAR

Dies Beispiel gibt Anlass zu folgenden Überlegungen und Vermutungen.
In diesem Fallbeispiel begegnen wir den Elementen Verbrühungstrauma, Trennung von der Mutter, Abspaltung vom „kindlichen Selbst“, ausgeprägte Symbiose mit der Mutter.
Der Zusammenhang lässt sich hypothetisch so beschreiben:
Das Trauma der Verbrühung mit 6 Jahren, der viermonatige Krankenhausaufenthalt haben bei Is. zu einer typischen Überlebensstrategie geführt: der Abspaltung der Selbstanteile, die sich an die Verbrühung, die damit verbundenen Gefühle von Schmerz, Verlassenheit und Wut erinnern. Um das auszugleichen, ist sie – unbewusst!! – symbiotisch mit der Mutter verschmolzen, in sie „hineingeschlüpft, wie der Einsiedlerkrebs in das Schneckengehäuse. Zusätzlich ist sie von der Mutter getrennt. Das verstärkt noch diese Tendenz zur symbiotischen Identifikation mit der Mutter und die Abspaltung von ihrem „erwachsenen“ Selbst und von ihrem „kindlichen“ Selbst, ein Teufelskreis!
Diese Symbiose hat folgende Aspekte:

  • symbiotische Identifizierung mit der Mutter,
  • Trennung von zentralen eigenen Selbst-Anteilen,
  • Fehlende Abgrenzung, zunächst zur Mutter, dann allgemein zu allen anderen!
  • Es kommt zur „Vermischung“ von Mutters und der eigenen „Energien“, zur „Verwechslung“ zwischen Mutters Last und der Eigenen.

Am Schluss der Aufstellung erst wird eine weitere Dynamik deutlich, welche ebenfalls ein Symbiosemuster auslösen kann: eine Identifikation mit einem abgegangenen Geschwister.
In diesem Beispiel begegnen wir einer Überlagerung von drei Dynamiken, von denen jede einzelne geeignet ist, die Entwicklung eines Symbiosemusters auszulösen:

  • Identifikation mit einem abgegangenen Geschwister,
  • Trauma (Verbrühung, Krankenhausaufenthalt)
  • frühe Trennung von einer wichtigen Bezugsperson: der Mutter.

Das ist vielleicht die Erklärung dafür, dass das Symbiosemuster in diesem Fall so ungewöhnlich heftig ist.
Jeder einzelne Schritt der Symbioselösung: das „Aussteigen“ aus der Mutter, die Abgrenzungssätze, das Rückgaberitual mit dem Stein, das Abgrenzungsritual, ja sogar die Annäherung an die abgespaltenen Selbst-Anteile, weckt erneut heftige Verlassenheitsängste – die offenbar durch diese Symbiose „gebunden“ waren.

Auf Grund des Aufstellungsverlaufes vermute ich folgenden Zusammenhang:
S. war von Anfang an mit dem abgegangenen Geschwister identifiziert.Die Betroffenen haben nicht selten das Gefühl, wie das früh Gegangene keinen Platz im Leben, keinen Platz in dieser Familie haben zu dürfen. Sie fühlen sich bisweilen nicht zugehörig, nicht „gesehen“, so als hätten sie „eine Tarnkappe“ auf. Das hindert sie aber nicht daran, gleichzeitig deshalb wütend und vorwurfsvoll zu sein. Die Vermutung liegt nahe, dass diese unbewusste Dynamik bereits zu der Verbrühung beigetragen haben könnte.
S. hat, als Reaktion auf das Verbrühungstrauma und die Trennung von der Mutter den Selbstanteil, der Verlassenheit und Schmerz erinnert – das „verlassene innere Kind“ – abgespalten,
sie ist eine identifikatorische Symbiose mit der Mutter eingegangen, hat sich mehr mit deren Sorgen um das Kind identifiziert – und sich dafür schuldig gefühlt – ,als mit dem eigenen Schmerz.
Die fehlende Abgrenzung in den ersten Beziehungen, zum abgegangenen Geschwister und zur Mutter verhinderte die Entwicklung einer flexiblen Abgrenzung: zum Partner, zu dem gewünschten Kind.

Der Kinderwunsch hat bei S. eine gewisse Überwertigkeit. Meine Vermutung: getrennt von ihrem Selbstanteil – dem „inneren Kind“ – fühlte sie sich unvollständig. Ihre heftige Sehnsucht nach einem Kind könnte durch die Erwartung bestimmt sein, dass ein Kind sie „wieder vollständig machen könne“, als könne ihr ein Kind ihren abgespaltenen Selbstanteil ersetzen.

Dies Beispiel zeigt, wie ich glaube, sehr eindrucksvoll, wie mit Hilfe der Systemaufstellung die Überlagerung mehrerer Dynamiken sichtbar und bewusst gemacht werden kann. Die Hypothesen können unmittelbar durch das Aufstellungsbild, durch bestimmte Lösungs-Dialoge und schamanische Rituale überprüft werden, die bereits einen Lösungsprozess in Gang bringen.