E. eine ca. 45-jährige sensible und aparte Frau wirkt unsicher, zerrissen, resigniert, sie klagt über ein Grundgefühl von Schuld.
Sie berichtet: die Eltern trennten sich, als sie 12 war, sie blieb beim Vater, zur Mutter hatte sie nur wenig Kontakt.
Der Vater war emotional nicht präsent, Er war berufstätig, viel unterwegs. Er sagte ihr nicht, wann er zurück kam. Sie war sehr alleine, sehr auf sich selbst angewiesen. Er hatte mehrere Ehen, liess sich dann wieder scheiden. Zu einer dieser Hochzeiten konnte sie nicht kommen, da sie selber einen wichtigen Termin hatte. Das habe er ihr vielleicht übel genommen.
Seit 2 Jahren habe er den Kontakt zu ihr abgebrochen. Sie leide darunter, habe das Gefühl, sie sei daran Schuld.
Vaters Schicksal: er selbst hat seinen Vater früh im Krieg verloren.
Ihre erste Ehe ist geschieden, die 2 Töchter aus dieser Ehe sind mit 16 und 18 Jahren zum Vater gezogen. Sie hat eine zweite glücklichen Ehe, mit zwei Töchtern.

E. stellt auf: ihren Vater (V) am Rand des Kreises, abgewandt. Ihr erwachsenes Selbst (eS) steht ein Meter seitlich vom V , leicht zu ihm gewendet. Das kindliche Selbst (kS) steht ausserhalb des Kreises, das Gesicht abgewandt.

Der Aufstellungsverlauf zeigt eindrucksvoll, dass sie immer noch unbewusst für den Vater in verschiedenen Rollen steht: sie glaubt, ihm den fehlenden Vater, die richtige Partnerin, ja sogar sein Selbst (!) ersetzen zu müssen. Und sie fühlt sich zuhause auf seinem Platz, auf seinem „Boot“! Sie stellt ihm unbewusst ihren ganzen inneren Raum zur Verfügung, bzw. sie hält Vaters Raum für ihren eigenen Raum, für ihr eigenes Boot! Sie ist mit ihm verschmolzen.
Das hat sie daran gehindert, ihr „eigenes Boot in Besitz zu nehmen“, sich abzugrenzen und dadurch das eigene Boot „wasserdicht und hochseetauglich zu machen“.
Es war für sie ein sehr schmerzlicher Prozess, symbolisch aus Vaters Boot auszusteigen und in ihr eigenes – bisher unbekanntes – Boot zu steigen, sich mit ihren abgespaltenen Selbstanteilen zu verbinden. Und es kostete sie grosse Überwindung, ihre Grenze gegenüber dem Vater zu schützen, zu dem so eine grosse Sehnsucht, eine so grosse unerfüllte Liebe bestand.

Rückmeldung der Klientin zu dieser Aufstellung
(Sie ist selber Therapeutin, hat bereits verschiedene Therapien absolviert.)
Ich stelle fest, der Mensch ist bereit sich selbst zu vergessen, nur aus dem Wunsch heraus, grundlegende Bedürfnisse zu stillen. Das ist paradox!

Eltern zu haben, die emotional für ihr Kind da sind, scheint eines dieser Grundbedürfnisse zu sein. Es erscheint lebenswichtig!

Jetzt, wo alles wieder am richtigen Platz ist, spüre ich die unglaubliche Trauer um den Vater den ich nie hatte. Trauer kann heilen. Das heißt für mich konkret, dass ich jetzt die Möglichkeit habe, wie ein Erwachsener meine Trauer zu verarbeiten und das Thema emotional für mich zu einem Abschluss zu bringen. Das macht mich reifer und freier. Was nicht heißen soll, das man über gewisse Dinge im Leben nicht trotzdem traurig ist. Der Zustand ist dann ein anderer.

Das ist eine unglaubliche Chance!

Steckt man aber noch in seinem Bedürfnis fest, nimmt man das Paradoxe an der Situation gar nicht war. Man hofft immer noch auf Erfüllung. Man bleibt in dieser Hoffnung stecken. Nichts entwickelt sich. Was für eine Bindung!

Früher habe ich gedacht, grundlegende kindliche Bedürfnisse müssen unbedingt in der jeweiligen Situation gestillt werden, wenn es zu spät ist, lässt es sich nicht mehr nachholen. So sagt man ja z.B., dass Mädchen deren erste große Liebe zum Papa nicht erfüllt wurde, ihr Leben lang diesen Ersatz in der Partnerschaft suchen. Manchmal wohl wissend was sie da tun, aber das Bedürfnis ist so groß! Was für eine Falle!

Für mich ist es großartig! zu erleben, dass es einen Weg aus dieser Falle gibt!

Aber ich war ganz klar vorher nicht in der Lage, mir emotional vorzustellen, dass das geht!
Ein echter Kontakt, eine  „ich und Du“, war vorher nie möglich. Ich bin gespannt, was sich jetzt ändert.
Das Gefühl des Unvermögens, Versagens und der Enttäuschung, das dadurch entsteht, hat sich bei mir klar auf die  Beziehung zu meinen beiden großen Töchtern ausgewirkt. Ich merke, wie es sich bereits ändert.

Meine Älteste, die ja vor 1 ½ Jahren zu ihrem Vater zog, rief vor ein paar Tagen an, nur um mir zu sagen, dass sie mich vermisst. Das ist eine Premiere!
Und ich kann ihr gegenübertreten, ohne mich schuldig zu fühlen.

Nachdem ich die Beziehung zu meinem Vater geklärt habe! Eine Fern-Wirkung im System!
Zu früheren Beziehungen:
Ich habe vor    …   die Beziehung zu meinem 1. Mann aufgestellt. Wir leben seit 16 Jahren nicht mehr zusammen. Da war sehr viel Terror und ich kam bis heute nicht aus der Angst vor ihm heraus. Das bedeutet ja auf jeden Fall, dass hier immer noch eine starke Bindung war, ob gewollt oder ungewollt (in diesem Fall sehr ungewollt).
Ich konnte mich damals in der Aufstellung nicht auf seinen Platz stellen, ich bin sofort in Panik ausgebrochen.
Ich habe die Lösungs-Sätze trotzdem gesprochen und für mich ist auch klar, dass hier eine starke Verschmelzung war, denn ich habe seinen Blick auf mich, sein Bild von mir übernommen. Vielleicht muss ich es irgendwann noch einmal entschmelzen,  ich merke das Thema ist zäh. Es gibt immer noch Übergriffe, wenn auch nur sehr klein, gerade soviel, um mir zu zeigen, dass ich noch angreifbar bin.

Ich glaube, gerade zwischen der Beziehung zum Vater und späteren Beziehungen zu Männern gibt es erstaunliche Parallelen.
Versucht „Frau“ doch das, was sie vom “allerersten” Mann (Vater) nicht bekommen
konnte, sich bei den späteren zu holen.
Wie zum Beispiel  in meinem Fall die Nähe. Aber das hatte hier ja katastrophale
Auswirkungen. Ich habe mich quasi angeboten. Durch die fehlende Grenze waren
ja alle Übergriffe erst möglich. Ich wusste nicht, wie ich mich wehren sollte.
Eigentlich wusste ich überhaupt gar nicht, dass die Möglichkeit besteht, mich
zu wehren, bzw. eigene, unabhängige Handlungsweisen zu entwickeln.

Mir ist aufgefallen, rückblickend, dass auch mein 1. Mann ein symbiotisches
Beziehungsmuster gehabt haben muss. Sucht man sich das unbewusst?
Der Terror ging erst los, als ich anfing mich weiter zu entwickeln, an mir
zu arbeiten. Aus der extremen Nähe heraus zu gehen. Eigene Schritte zu
gehen. Vielleicht konnte er auch nicht unterscheiden, hat gedacht, ich nehme
ihm etwas weg, das ihm gehört. Und das hat ihn dann so wütend gemacht!?

Ein unerfülltes Bedürfnis nach Nähe (vielleicht ein unerfüllbares) kann eine
Beziehung ja auch erdrücken. Oftmals muss dann einer fliehen.

Ich sehe hier bei mir ein klar erkennbares Muster, ein Beziehungsmuster, das “ohne eigenes Boot” Muster.

Kann man sagen, der Ursprung oder zumindest eine ursächliche Situation war
die mangelnde Nähe zu meinem Vater? Ist in solchen Fällen die aus welchem
Grund auch immer eingegangene Symbiose zu einem Elternteil die Ursache für die späteren symbiotischen Beziehungsstörungen?
Und spielt es eine Rolle, wenn es in der Pubertät keine Möglichkeit zur gesunden Auflösung dieser Symbiosen gibt? (Beispiel Trennung meiner Eltern mit 13, plötzlich waren beide weg)

Meine Empfindung ist, dass aus dem “ohne eigenes Boot” Muster eine große
Abhängigkeit von anderen entsteht. Andere sind dann immer der Dreh- und
Angelpunkt im Leben. Man ist unfrei. Ohne eigenes Boot glaubt man unterzugehen. Ein wunderbares Bild!

Zum Thema Aggressionspotential und Abgrenzung:
So viele Menschen leiden heute unter Symptomen die durch nach innen gerichtete, gegen sich selbst gerichtete Aggressivität und Destruktivität entstehen.
Schau zum Beispiel mal wieder auf die HPU. Diese Menschen können nicht entgiften. Belastungen kommen ja NICHT nur von außen, es entstehen durch den eigenen Stoffwechsel Giftstoffe wie z.B. Ammoniak, die schnell ausgeschieden werden sollten.

Stattdessen behalten diese Menschen ihr Gift und richten es gegen sich selber. So können sie dann auch die nötigen Nährstoffe nicht mehr aufnehmen, sie verweigern sich das Leben.

Ein Beispiel unter vielen.

Man hat ja noch nicht wirklich eine Idee dazu, wie man die HPU „heilen“ könnte. Sicherlich, man substituiert und leitet aus, unterstützt den Körper bei den Tätigkeiten, die er nicht selber hinkriegt. Und das ist wirklich gut und wichtig!

Aber was könnte man tun, um den Menschen wieder in die Verfassung zu bringen, es wieder selber zu schaffen? Gesund zu werden?

Vielleicht ja mit systemischer Selbstintegration.

Kommentar:

Der Aufstellungsverlauf zeigt, dass E. Sich noch auf Vaters „Boot“ befindet, sie ist mit ihm identifiziert.
Das wirkt zunächst paradox, da er ja emotional nicht anwesend war und sie früh selbstständig sein musste.
Ich finde immer wieder, dass Klienten noch mit einem Elternteil, z.B. dem Vater identifiziert sind, zu dem sie früh den Kontakt verloren haben, durch Trennung oder Tod.
Ich habe zwei Vermutungen zu dieser Dynamik:
1.Durch die Identifikation haben sie zumindest die ILLUSION einer Beziehung zu einem nicht existenten Vater.
2.Wenn ein Kind eine wichtige Bezugsperson vor der Pubertät, vor der Ablösung verliert – durch Trennung oder Tod – dann kann es nicht die ganz normale frühe Identifizierung mit diesem Elternteil im Abgrenzungsprozess der Pubertät lösen, es bleibt in der Identifizierung stecken.

Das Beispiel von E. zeigt, dass sich eine ähnliche Dynamik auch bei einem zwar real anwesenden, aber emotional nicht präsenten Elternteil entwickeln kann.

Dies Fallbeispiel zeigt auch eindrücklich, dass die „fixierte Identifikation“ mit dem Vater als Überlebensstrategie verstanden werden kann. Der Vater war emotional nicht erreichbar, konnte seine Tochter nicht wahrnehmen, ihr seine Liebe nicht zeigen. Es gab keinen „Ich-Du-Kontakt“. Das Symbiosemuster gibt zumindest die Illusion von Nähe, die Illusion, für den Vater wichtig und bedeutsam zu sein.
Aber diese Überlebensstrategie erschwert zugleich einen echten Kontakt zum Vater. Wenn die Tochter aus ihrem Bedürfnis nach Nähe (unbewusst!) glaubt, dem Vater „das ersetzen zu müssen, was ihm fehlt“, wenn sie (unbewusst!) glaubt, für ihn die  Rolle des fehlenden Grossvaters, der Partnerin, ja sogar von Vaters eigenem Selbst spielen zu müssen, dann hat sie vielleicht das – illusionäre – Gefühl, von ihm gebraucht zu werden, für ihn sehr wichtig zu sein. Aber sie ist nicht in ihrer eigentlichen Rolle als Tochter. Der Vater, der sie ohnehin nicht richtig wahrnehmen kann, hat noch weniger die Chance, ihr als Tochter zu begegnen.
Sie ist in ihrer Identität verwirrt. Ihr Selbstgefühl ist brüchig: einerseits illusionäre Grössenfantasien, für den Vater wichtig zu sein, andrerseits die Erfahrung, dass all ihr Bemühen um Nähe zum Vater – buchstäblich bis zur Selbstverleugnung – umsonst war. Das erzeugt ein Gefühl des Unvermögens, der Enttäuschung, der Resignation.

Und dies Muster prägt auch die späteren Beziehungen: zum Partner, zu den Kindern. die Betreffenden neigen dazu, auch in ihrer Partnerschaft, „auf das fremde Boot zu steigen“, für den Partner „selbstlos“ zur Verfügung zu stehen. Einmal weil sie nur diese Form von Bindung kennen gelernt haben. Zum anderen, weil sie versäumt haben, ihr eigenes Boot einzurichten und „hochseetauglich“  zu machen. Ihnen bleibt buchstäblich nichts anderes übrig.
Indem sie auch in der Partnerschaft ihre „Überlebensstrategie“ mit dem Vater anwenden, wiederholen sie die Erfahrung, keinen wirklichen Kontakt aufnehmen zu können – weil sie nicht bei sich selbst sein können, weil sie keinen eigenen inneren Raum, kein „eigenes Boot“ aufbauen konnten.
Sie geben buchstäblich alles – und scheitern dennoch – besser deswegen! Das verstärkt ihr Gefühl des Versagens, der Resignation.

FEHLENDE ABGRENZUNG UND DAS SCHICKSAL DES AGGRESSIONSPOTENTIALS
Wenn das ursprüngliche aggressive Potential – weder gut noch böse – sich nicht auf gesunde, konstruktive Weise in der Abgrenzung, im SELBST-Schutz entladen kann, dann staut es sich, wird destruktiv.
Es kann sich „nach innen“, gegen das eigene Selbst wenden,  einmal auf der seelischen Ebene als Resignation, Schuldgefühle, Lähmung, Zweifel bis zur Selbstzerstörung und das Bild einer Depression erzeugen.
Auf der körperlichen Ebene kann dies destruktive Potential zu psychosomatischen und körperlichen Erkrankungen führen.
Das destruktive Potential kann sich auch – gleichzeitig oder alternativ – „nach aussen wenden“. Das unabgegrenzte Mitleiden schlägt um in eine überabgegrenzte Gefühllosigkeit, die sich aufopfernde „Selbstlosigkeit“ schlägt um in Egoismus, die „Gutmütigkeit“ – mehr Zwang als Tugend – schlägt um in Boshaftigkeit. Liebe wird zu Hass. Die Betreffenden werden kalt, egoistisch und böse.
Wir alle kennen Menschen, die so sind, und würden nicht immer vermuten dass hinter dieser stachligen Schale eigentlich eine fehlende Abgrenzungsfähigkeit steht, eine hohe Sensibilität, ein grosses Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden, und eine tiefe Verletzheit.

Das ungeheure destruktive Potential des Symbiosemusters ist immer wieder erschreckend.
Fast könnte man vermuten: je schwerer die Destruktion – in Form von  Depression, Krankheit, Boshaftigkeit – desto grösser die verschüttete Liebe!
Welch ungenütztes Potential liegt da verborgen!
Aber dies Potential ist nicht verloren!
Die  entscheidenden lösenden Schritte:
die frühe symbiotische Beziehung zu erkennen, die zur Abspaltung der Selbstanteile und zum unbewussten Abgrenzungsverbot geführt hat,
das unbewusste Abgrenzungsverbot bewusst machen und zu lösen, sodass der Betreffende sich abgrenzen darf, dass er wieder einen „eigenen inneren Raum“ errichten kann, der es ihm auch und gerade im Kontakt zum Gegenüber erlaubt, mit sich selbst verbunden zu sein, unabhängig davon, was andere von ihm denken oder erwarten,
wieder Verbindung aufzunehmen mit den abgespaltenen Selbstanteilen.

Eindrucksvoll, wie diese bizarre, verwirrende Dynamik durch den Aufstellungsprozess bewusst werden und durch die beschriebenen Lösungssätze und Rituale auch gelöst werden kann.