Do it yourself: Befreiung von Seelischer Leibeigenschaft

„Seelische Leibeigenschaft“
Folge einer Jahrhunderte währenden Unterdrückung?

 

Wir alle kennen seelische Abhängigkeit in Familie und in der Arbeit, welche deutliche Parallelen zur Leibeigenschaft aufweisen. Daher könnte man sie auch bezeichnen als seelische Leibeigenschaft.
In meinem neuen Buch „Zukunft für alle – oder kurzer Profit für wenige“ vertrete und begründe ich die Auffassung, dass das verbreitete Symbiosemuster und die Tendenz zum Gehorsam nicht angeboren, sondern erworben, genauer anerzogen ist.
Der Mensch ist die einzige Spezies, die ihresgleichen wie Haustiere besitzt und benutzt.

 

Über Jahrhunderte war in Europa die Landbevölkerung rechtlos und unfrei. Sie waren Leibeigene der Grundbesitzer: nur der Adel und der Klerus durften Land besitzen! Dazu wurden diese Menschen gezwungen, durch Armut, durch Gewalt, und vor allem durch eine gezielte „Erziehung“ (Koditionierung), welche die Menschen dazu brachte, dass sie „mit Freuden“ dienen – und Leid ertragen.

Die Kirche hat zusammen mit dem Adel von Leibeigenschaft profitiert und hat sich für diesen Zweck benutzen lassen. Ihr Erziehungsprogramm ist immer noch in Anwendung. Neben individuellen traumatischen Erfahrungen von  Verlust und Gewalt ist es ein entscheidender Faktor bei der Entstehung des Symbiosemusters.

Diese seelische Leibeigenschaft beschreibe ich im Folgenden dadurch, dass ich die Verhältnisse der realen Leibeigenschaft, wie sie über Jahrhunderte in Europa existierte, als Modell verwende. Um eine gendergerechte und dennoch lesbare Form zu finden, verwende ich für Untertan*in die weibliche, für Herr*in die männliche Form. Das entspricht auch dem patriarchalen Machtgefälle:

Die Leibeigene besitzt einen Raum (oder Territorium), der ihr Eigentum sein könnte. Aber sie hat gelernt, dass dieser Raum einem anderen gehört: dem Herren. Der Herr hat daher das Recht, den Raum der Leibeigenen zu betreten, und über diesen Raum zu verfügen. Da die Leibeigene somit glaubt, kein Recht zu haben, ihren Raum zu besitzen und gegen den Herren zu schützen, wird der Teil ihrer Person, der dies Recht haben könnte (ihr Selbst), überflüssig, ja gefährlich da unerwünscht: sie lernt, ihr SELBST zu unterdrücken, abzuspalten. Ohne Selbst und ohne Selbst-Wert orientiert sie sich nun nach den Ansichten und Bedürfnissen des Herren, statt nach ihrem Selbst. So wird der Herr zum „Introjekt“(1). Der Wert der Leibeigenen wird davon bestimmt, wie nützlich sie für den Herren ist. Die Leibeigene hat kein Recht, sich nach ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen zu orientieren. Im Gegenteil, sie macht sich dadurch schuldig und kann dafür bestraft werden. Damit nicht genug, sie kann auch im Territorium des Herren zu (Fron-)Diensten herangezogen werden. So lernt sie, sich auch im (eigentlich fremden) Raum des Herren zuständig zu fühlen.

Die Elemente dieses Modells sind die Unterscheidung

  • zwischen eigenem und fremden Raum, bzw.
  • zwischen eigener und fremder  Identität,
  • zwischen eigener und fremder Zuständigkeit, und die Frage,
  • ob der eigene Raum von einer fremden Person (dem „Herren“) besetzt ist, oder
  • ob das „Selbst“ seinen Raum in Besitz nehmen und die Grenzen seines Raumes gegenüber dem „Herren“ schützen kann.

Dies Modell kann dazu verwendet werden, um durch eine Systemaufstellung die Beziehung zu einer Autoritätsperson zu untersuchen. Es ist auch zur Überprüfung geeignet, ob du ein  „Introjekt“ verinnerlicht hast (siehe weiter unten). Wird dabei eine Konditionierung zu Selbstentfremdung und Gehorsam sichtbar und bewusst, dann kann diese Konditionierung bearbeitet und gelöst werden.

Anleitung zur Befreiung durch Do it Yourself

 

Dazu brauchst du: eine zweite Person als Helfer, drei Stapel(!)-Stühle, ein Meditationskissen, einen Schal oder ein Seil.

1. Du wählst Repräsentanten aus für dein Selbst – z.B. ein Stuhl mit einem runden Meditationskissen und ein Stuhl für die Autoritäts-Person, zu der du deine Beziehung klären möchtest, z.B. den Vater.

2. Du stellst dich und die beiden Repräsentanten so auf, wie es deinem Gefühl entspricht. Das Bild zeigt dir, ob und in wieweit du deinem Vater mehr Beachtung gibst als deinem Selbst.

3. Wenn du überzeugt bist, dass dein Vater nicht in deinen Raum gehört, dann kannst du mit einem Schal die Grenze deines Raumes andeuten und deinen Vater jenseits der Grenze platzieren. Wie fühlt sich das für dich an? Bist du erleichtert – oder fehlt dir etwas? Oder vielleicht beides? Spürst du jetzt mehr Aufmerksamkeit für dein Selbst?

4. Verlasse deinen Raum und stelle dich an den Platz deines Vaters sozusagen in dessen „Raum“. Wie fühlst du dich da? Fühlt sich das vertraut an? Hast du dich hier zuständig gefühlt? Du kannst noch einmal überprüfen, ob das zu deiner Identität hier und heute gehört – oder nicht. Wenn nicht, gehst du zurück in deinen Raum, und sprichst zu ihm die klärenden Sätze: „Du bist Du – und ich bin ich. Du lebst dein Leben – und ich lebe meines. Und dein Leben kann ganz anders sein, als ich mir das vorstelle, und ich respektiere das. Und mein Leben kann ganz anders sein, als du es dir vorstellst, egal ob du das respektierst oder nicht.“
Wie fühlt sich das für dich an?

5. Nimm noch einmal deinen Vater in deinen Raum (als „Introjekt“). Hast du ihn auf ein „Podest“ gestellt? Dann stelle zwei Stapelstühle übereinander. Wie fühlt sich das an? Vielleicht gibt es dir ein Gefühl von Nähe und Sicherheit? Oder fühlst du dich selber klein und unterlegen, und löst das bei dir Abneigung aus? Oder beides (Ambivalenz). Wenn du erkennst, dass dein Vater wie eine fremde Energie ist, die deinen Raum besetzt, und dich daran hindert, du selber zu sein, dann wäre „Revolution“ angesagt. Und du kannst dein eigenen Raum dadurch „in Besitz“ nehmen, dass du deinen Vater – bei allem Respekt! –  endgültig aus deinem Raum entfernst. „Vater du gehörst nicht in meinen Raum, und schon gar nicht auf den Platz von meinem Selbst!“

6. Nun nimm Kontakt mit deinem Selbst auf, „das seinen Wert hat unabhängig davon, ob es gebraucht wird, ob es etwas leistet. So wie eine Rose, die ihren Wert hat, einfach, weil sie da ist.“

7. Vielleicht erscheint es dir fremd oder „verboten“? Vielleicht wurde es von deiner Familie, von deinem Vater abgelehnt, und du hast dessen Sichtweise – dessen „Brille“ – übernommen, um zu überleben? Dann lege symbolisch die „Brille“ deines Vaters ab und schau mit deinen eigenen Augen auf dein Selbst. Gibt es an ihm etwas auszusetzen? Und prüfe, wie es sich anfühlt, wenn du mit deinem Selbst verschmilzt – statt mit deinem Vater.

8. Um die Verbindung mit deinem Selbst zu verbessern, kannst du deine Kraft für dich – statt wie bisher gegen dich – einsetzen, indem du die Grenze deines Raumes symbolisch gegenüber dem Vater „schützt“, mit Körpereinsatz!
Hier vertritt dein Helfer den Vater und kommt auf dich zu, sodass du ihn an der Grenze stoppen kannst.
Wie fühlt sich das an? Vielleicht verboten? („Abgrenzungsverbot“)
Du hast die Kraft dazu und du hast das Recht dazu, das ist so etwas wie ein gesunder Schutzreflex. Dann weisst du immer, wer du bist – und wer du nicht bist! Wo du zuständig bist – und wo nicht!

9. „Gegenabgrenzung“. Bisher hast du dich vielleicht im „Raum“ deines Vaters „zuständig“ gefühlt – weil du dazu erzogen worden bist. Jetzt kannst du die Erfahrung machen, dass du da gar nicht zuständig bist, indem dich an der Grenze jemand stoppt – dein Helfer.

Wie fühlt sich das an? Wenn du dazu erzogen wurdest, für andere da zu sein, dann fühlt sich das vielleicht an wie Ablehnung, Abweisung und kann sehr kränkend sein. Wenn du jedoch erkennst, dass das zwischen Erwachsenen normal ist, dass es die Voraussetzung für eine Begegnung „auf Augenhöhe“ ist, dann verliert es nach und nach den Aspekt der Kränkung.

10. Gegenabgrenzung auf der Zeitlinie.
Kennst du das von dir, dass du alten Themen, Verletzungen oder Fehlern immer wieder Raum und Energie gibst? Stell dir vor, du gehst symbolisch zurück auf einer Zeitlinie in die Vergangenheit, und da wirst du drei mal gestoppt – von deinem Helfer – jeweils mit dem Satz: „Es gibt kein Zurück! Was vorbei ist, ist vorbei!“ „Und es kommt nicht mehr wieder!“ „Was mausetod ist, wird nie mehr lebendig!“
Das kann schmerzhaft sein, wie ein Abschied. Aber das ist ein gesunder Schmerz, und wenn du da hindurch gehst, dann öffnet sich die Türe für das „Hier und Jetzt“.

11. Jetzt überprüfe noch einmal, wie sich die Verbindung mit deinem Selbst anfühlt – repräsentiert durch das Meditationskissen. Und wie geht es dir jetzt mit deinem Gegenüber?

Auf die gleiche Weise kannst du die Beziehung zu anderen Autoritätspersonen überprüfen (Lehrer, Vorgesetzte).
Ero Langlotz, München 30.8.2017 (aktualisiert: 11.9.2017)

 

(1) Diesen Begriff schuf der ungarische Psychoanalytiker Ferenczy, um zunächst das Verinnerlichen einer geliebten Person zu beschreiben. Später verwendete er ihn auch für die Verinnerlichung einer destruktiven Person, z.B. eines Täters.



Copyright:

Jegliche Vervielfältigung der Inhalte von www.e-r-langlotz.de sowie www.verein-systemische-selbstintegration.info in geschriebener, gedruckter oder elektronischer Form bedarf der schriftlichen Genehmigung. 
Verstöße gegen das Copyrightgesetz werden rechtlich geahndet.