Prozessorientiertes Familienstellen in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis I (Fortsetzung 1)

Die zuvor erhobene systemische Familienanamnese lässt Hypothesen zu, um welche Verstorbenen, um welche fehlenden Personen es sich handelt: ein früh verstorbener oder durch Scheidung "verlorener" Vater, ein früh verstorbenes, weggegebenes Geschwister. Merkwürdiger Weise sind auch totgeborene, abgegangene oder abgetriebene "Geschwister" sehr wichtig! Aber auch verlorene, abgegangene oder abgetriebene "Kinder".


Trennung und Bindungsbereitschaft

Die Grundhypothese, die sich inzwischen in tausenden Familienaufstellungen bestätigt hat: ein nicht verarbeiteter Verlust eines nahen Angehörigen wirkt sich einschränkend auf die Bindungsbereitschaft des Betreffenden aus, so als wolle oder könne er sich nicht auf eine neue Beziehung einlassen, solange die alte "Beziehungswunde" nicht "abheilen" konnte. Wird dieser nicht vollzogene Abschied in der Einzelberatung - oder in einer Aufstellung mit Stellvertretern - durch geeignete Abschiedsrituale nachgeholt, so kann es zu einer befreienden, kathartischen Reaktion kommen, der Schmerz kann wieder fließen, der Verstorbene kann verabschiedet werden.

Meist ist die Wirkung unmittelbar zu spüren und zu sehen: das Gesicht des Klienten hellt sich auf, er wirkt lebendiger. So als könne jetzt eine alte Wunde heilen, als wäre eine neue und andere emotionale Hinwendung zu einem Partner, zu einem Kind, allgemein zum Leben wieder möglich.


Beispiel: Christine konnte ihr verlorenes Kind noch nicht verabschieden

Anamnese: Verheiratet, bei der zweiten Schwangerschaft kam es zu einem Absterben des Kindes, im dritten Monat, zwei Wochen später erfolgte die Totgeburt.
Sie hatte einen starken Kinderwunsch, hatte von Anfang an jedoch ein ungutes Gefühl zu dem Kind. Jetzt wird sie nicht mehr schwanger - trotz Kinderwunsch.

Aufstellungsbild Gegenwartsfamilie:
Aufstellungsbild Gegenwartsfamilie
M = Mann
F = Frau
1 = Sohn
2(+) = Totgeburt

Christine glaubte, sich von dem verstorbenen Kind verabschiedet zu haben. Das Aufstellungsbild zeigt deutlich, dass sie immer noch mit dem Kind verbunden ist. Das hindert sie offenbar daran, ihren Platz neben dem Mann einzunehmen.
Durch die Gegenüberstellung mit dem Stellvertreter des totgeborenen Kindes kann sie ihren ganzen Schmerz noch einmal spüren, sie kann die Liebe zeigen, die sie dem Kind selbst nicht geben konnte.

Abschiedsrituale

Unsere Sprache kennt das Phänomen, dass bisweilen beim Tod eines nahen Angehörigen ein Teil von uns "mit ihm geht". Das erschwert oft einen Abschied, wirkt sich aus wie eine Bindung, welche die Hinwendung zum Leben beeinträchtigt. Durch ein entsprechendes Ritual gibt die Stellvertreterin des totgeborenen Kindes Christine diesen Teil wieder zurück. Dadurch wirkt sie lebendiger.
Manchmal hält eine Mutter das verstorbene Kind unbewusst durch ihre Trauer fest, sodass beide, Mutter und Kind, keinen Frieden finden können. Dies wird sehr eindrucksvoll im Märchen der Gebrüder Grimm "Das Totenhemdchen" beschrieben.
Ich frage Christine, ob sie ihr verstorbenes Kind loslassen möchte, sodass es auch seinen Frieden finden kann? Nachdem sie zustimmt schlage ich ihr die Sätze vor: "ich muss dich nicht mehr durch meine Trauer festhalten. Du darfst jetzt dahin gehen, wo du deinen Frieden findest".
Jetzt kommt noch einmal ein großer Schmerz, der zeigt, dass erst jetzt der Abschied vollzogen wird! Ein letztes Mal kann sie das verstorbene Kind, gemeinsam mit dem Ehemann, zum Abschied umarmen. Dann sieht sie zu, wie die Stellvertreterin des verstorbenen Kindes sich entfernt, dahin, wo sie "ihren Frieden findet".
Christine kann sich nun an der Seite ihres Mannes stellen, dem gemeinsamen Sohn zuwenden. Vielleicht ist sie jetzt auch innerlich bereit, ein weiteres Kind begrüßen zu können.

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