Prozessorientiertes Familienstellen in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis I (Fortsetzung 2)

Beispiel: Gertruds Tochter ist so aggressiv

Gertrud berichtet, ihre 3. Tochter, 3 Jahre alt, sei aggressiv gegen andere, aber auch gegen sich selbst. Sie habe das ganze harmonische Familienleben durcheinander gebracht.
Systemische Anamnese: Verheiratet, drei Kinder
Herkunftsfamilie der Frau: Sie ist die dritte von fünf Kindern, das erste und zweite waren Totgeburten, zwei Jungen! Die Mutter sei immer sehr hart gewesen, habe keine Gefühle zeigen können.


Aufstellungsbild Gegenwartsfamilie:

Aufstellungsbild Gegenwartsfamilie

Die Frau kann offenbar ihren Platz neben dem Mann nicht einnehmen, sie steht in der Reihe der Kinder, wie das jüngere Geschwister der dritten Tochter!
Der Aufstellungsverlauf zeigt, dass sie schon in ihrer Herkunftsfamilie ihren richtigen Platz nicht einnehmen konnte. Die "Mutter" war durch den Tod der beiden ersten Kinder ohne Gefühl, spürte zur Klientin keine Verbindung.
Erst nachdem sie die verstorbenen Kinder verabschiedet hatte, konnte sie ihre Tochter wahrnehmen und ihr ihre Mutterliebe zeigen.
Gertrud verabschiedet ihrerseits die verstorbenen Brüder, die sie gar nicht kennen lernen konnte. Dann lehnt sie sich an die Mutter, und die Kette der Mütter an.
Nun spürt sie die Kraft der Mütter.

Anschließend sucht sie ihren guten Platz in ihrer eigenen Familie, stellt sich jetzt neben den Ehemann: "mein Herz war bei meinen verstorbenen Brüdern, keiner von euch kann sie ersetzen. Vielleicht konnte ich deswegen nicht so für euch da sein!"
Zum ersten Mal strahlt sie. Der Ehemann ist sehr berührt.

Kommentar: Das Aufstellungsbild zeigt, dass G. in ihrer eigenen Familie nicht den richtigen Platz einnehmen konnte. Im Aufstellungsprozess wird deutlich, dass sie bereits in ihrer Herkunftsfamilie ihren Platz nicht finden konnte. Sie konnte sich nicht von ihren verstorbenen Geschwistern verabschieden, hat sie zum Teil vertreten. So konnte sie auch nicht Kind sein, konnte bei ihrer eigenen Mutter nicht Halt finden.
Die stellvertretende Wahrnehmung der Repräsentanten ermöglicht es, diese Verstrickungen wahrzunehmen und durch geeignete Lösungsrituale zu lösen.


Elemente der Aufstellungsarbeit

Das Familienbild lässt das Beziehungsgeflecht der Familie mit seinen Verwerfungen sofort deutlich werden: meist steht der Klient nicht am angemessenen Platz, da auch die Eltern ihren angemessenen Platz nicht einnehmen konnten.
Die stellvertretende Wahrnehmung der Repräsentanten und die systemische Anamnese lassen die Dynamik der Verstrickungen in der Familie deutlich werden: meist hat der Vater oder die Mutter früh ein Geschwister oder Elternteil verloren und diesen Verlust nicht verarbeitet. Dieses Trauma scheint eine Einschränkung der eigenen Bindungsfähigkeit zu bewirken, die Eltern können sich den Partner und dem Kind nicht ganz zuwenden, können dem Kind den erforderlichen Halt nicht geben.

Oft versucht nun das Kind, den Eltern die fehlende Person zu ersetzen, den Eltern Schmerz oder Schuld abzunehmen! Diese Strategien ermöglichen vielleicht ein Überleben in dieser Familie, aber sie fordern einen hohen Preis: das Kind steht nicht am richtigen Platz, kann seine kindlichen Wünsche und Bedürfnisse an die Eltern nicht äußern, vielleicht noch nicht einmal spüren. Und da es den Halt der Eltern nicht nehmen konnte, tut es sich schwer, sich von ihnen abzulösen.

Strukturierte Lösungsdialoge und geeignete Rituale - Rückgaberitual mit dem Stein, Anlehnen an die Kette der Väter/Mütter - erleichtern das Lösen von unbewussten "Glaubenssätzen" und "Gelübden". Der Klient kann in einer nachholenden Erfahrung manchmal zum erstenmal die Liebe und den Halt der Eltern erleben. Das erst scheint ihm die Ablösung von ihnen zu ermöglichen.
Archaische Vorstellungen von "Seelenverlust" und den unterschiedlichen Schicksalen der "verstorbenen Seele", die sich noch in unserer Sprache, in den Märchen und bei den Schamanen finden lassen, erleichtern das Abschiednehmen von den Verstorbenen und die Hinwendung zum Leben. Sie eröffnen eine unglaubliche therapeutische Ressource.


Zusammenfassung

Das in dieser Form angewendete Familienstellen kann in kurzer Zeit eine tiefe Wirkung entfalten:
Der Therapeut findet schnell zu den "Störfeldern" des Familiensystems.

  • Stellvertretende Wahrnehmung der Repräsentanten ermöglichen durch strukturierte Lösungsdialoge und -Rituale einen Aufstellungsprozess, der auf einer unbewussten Ebene eine Wandlung von Einstellung und Wahrnehmung bewirken kann.
  • Der Klient erlebt in abgeschwächter Form die Beziehungstraumen seiner Kindheit wieder, die Lösungsrituale helfen ihm, aus der Opferrolle heraus zu kommen.
  • Die kathartische Befreiung verschütteter Gefühle wie Trauer, Schmerz, gelegentlich auch Wut und Angst ermöglichen, dass nun auch die Liebe wieder fließen kann, sowohl bei den "Eltern" wie auch beim Klienten.
  • Indem der Klient den Eltern wieder ihr Schicksal, ihre Würde lässt, findet auch er zu seiner Würde, zu seiner Kraft und zu seiner Identität.


  • Der Leiter unterstützt diesen Prozess. Entsprechend seiner Erfahrung, seiner Wahrnehmung und der Intuition, bietet er Lösungssätze und -Rituale an, die der Klient auch ablehnen kann.

    Effizienzkontrollen über Selbstbeurteilungsfragebögen zeigen, dass diese Vorgehensweise eine tiefe und anhaltende Wirkung erzielen kann. Erforderlich ist allerdings eine professionelle Vorgehensweise. Dazu gehört auch, den Klienten auf die vorübergehende Verunsicherung vorzubereiten, die zwangsläufig mit den Veränderungsprozessen einhergeht und ihm Unterstützung anzubieten, falls es erforderlich ist.

    Dr. E. R. Langlotz

    29. Juni 2004

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