Hellinger hat Virginia Satirs therapeutische Arbeit mit Repräsentanten weiterentwickelt, und unter der Bezeichnung „Familienstellen“ weltweit verbreitet.
Als Psychiater habe ich 1995 für Hellinger ein Seminar „Aufstellungen mit Psychosekranken“ organisiert und dokumentiert. Das gab mir den Anstoß, das Potential des Familienstellens für die Behandlung psychisch Kranker zu erforschen. Dabei stieß ich auf das Themen Symbiose und Autonomiestörung, welche die entscheidenden Ursachen für alle (?) psychischen Erkrankungen zu sein scheinen. Das hat meine Arbeit – und mich selbst – entscheidend verändert.
Dafür bin ich sehr dankbar. Die Wahrnehmung neuer Phänomene erforderte jedoch, getreu Hellingers eigener Maxime, Konzepte und Begriffe immer wieder in Frage zu stellen, sowohl eigene als auch die Hellingers.

Dazu möchte ich folgende Thesen zur Diskussion stellen:

  1. Hellinger sieht z.B. das Phänomen der „Identifizierung“ als Auswirkung eines von ihm postulierten „Sippengewissens“, welches dafür sorge, daß ein „ausgeklammertes“ Familienmitglied von einem späteren vertreten werden muß. Der Spätere übernehme unbewußt die Gefühle und das Schicksal des „Ausgeklammerten“. Zur Lösung genüge es, den „Ausgeklammerten“ als zugehörig zu würdigen, „in sein Herz zu nehmen“. Nach meiner Erfahrung gibt es aber heftige Identifikationen, die sich so nicht lösen lassen.
  2. Man kann jedoch Identifizierung z.B. einer Tochter mit Vaters früh verstorbener Mutter, auch anders, als Kontaktversuch zum Vater verstehen. Weil er sich von seiner Mutter nicht verabschieden konnte, noch in Sehnsucht und Schmerz zu ihr gebunden ist. Er fühlt sich wie amputiert und kann sich seiner Tochter nicht als Tochter zuwenden. Die Tochter spürt, daß sie den Vater nicht als Tochter erreichen kann. Sie spürt auch seinen Schmerz, seine Sehnsucht zu seiner Mutter und sie identifiziert sich mit seinen Erwartungen („falsches Selbst“), so als müsse sie so etwas wie eine „Prothese“ für Vaters Wunde sein. Sie bekommt das Gefühl, dem Vater das geben zu müssen, was dieser von seiner eigenen Mutter nicht bekommen konnte. So gewinnt sie die Illusion, für den Vater wichtig und bedeutsam zu sein, zu ihm Nähe und Kontakt zu haben, die sie an ihrem wahren Platz als Tochter nicht haben könnte. Aber Vaters Sehnsucht, seine schmerzliche Liebe gilt eigentlich nicht ihr selbst, dem Kind. Dies „falsche Selbst“ hindert sie daran, sie selbst zu sein, verwirrt ihre Identität.
    Dies Verständnis ermöglicht neue Lösungsstrategien.
  3. Hellinger selbst erwähnt das Symbiosethema nicht ausdrücklich, aber mir scheint, es verbirgt sich hinter dem Begriff der „blinden Liebe“, jenem Phänomen, daß Kinder oft ungewollt Symptome der Eltern übernehmen, besonders dann, wenn sie keinen Kontakt zu ihnen haben, sie sogar ablehnen. Dies läßt sich oft dadurch lösen, daß der Klient die Eltern bewußt als Eltern anschaut, von seinem Platz als Kind. Wenn das gelingt, wenn der Klient sich als von den Eltern getrennt wahrnehmen kann, dann kann er zwischen dem eigenen und dem Schicksal der Eltern unterscheiden, die blinde Liebe wandelt sich in eine „sehende“ Liebe, er kann das Schicksal der Eltern bei diesen lassen.
    Nach meinem Eindruck gelingt das nicht immer.
  4. Bei den Patienten meiner psychiatrischen Praxis entdeckte ich das Phänomen, daß viele sich am Platz von Mutter und Vater besser auskannten, als am eigenen, als sähen sie die Welt – und sich – durch die Augen der Eltern, als seien sie mit ihnen verschmolzen. Das erklärt, warum bei ihnen in der Regel die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und Gefühle und damit die autonome Orientierung gestört sind. Daher könnte man von einer malignen Verschmelzung sprechen. Eine derartig heftige Verschmelzung aber läßt sich nicht durch die oben beschriebenen einfachen Interventionen lösen, hier sind kraftvolle archaische Rituale erforderlich.
  5. Gerade in sehr belasteten Familien finde ich häufig eine „kollektive Symbiose“, über die Generationengrenzen hinweg sind die Familienmitglieder miteinander „symbiotisch verschmolzen“. Das „kollektive Unbewußte“ (C.G.Jung) ist ein Aspekt diese Phänomens und es erklärt, warum die Enkelin Gefühle und Bilder von Großmutters Gewalterfahrungen auf der Flucht übernommen hat, als wäre es ihre eigenen. Und es erklärt die besondere Dynamik des symbiotischen Kollektivs: Wenn ein Familienmitglied versucht, aus dieser kollektiven Symbiose auszusteigen, seinen eigenen autonomen Bereich zu entwickeln, wird das vom Kollektiv als bedrohlich empfunden – so als würde dadurch der Zusammenhalt des ganzen Kollektivs in Frage gestellt – und durch charakteristische Manipulationen hintertrieben: durch Kontaktabbruch, durch Abwertung: du bist egoistisch, du bist verrückt!
  6. Hellingers Beschreibung des „kollektiven“ Gewissens und der Notwendigkeit, ein persönliches Gewissen zu entwickeln, weist bereits auf diese Dynamik von kollektiver Symbiose und Individuation hin. Die Verwendung der Begriffe „kollektives Gewissen“ und „Sippengewissen“ scheinen mir aber verwirrend und mißverständlich. Geben sie nicht diesen Phänomenen den Rang einer schicksalhaften Ordnung, einer regulierenden Instanz? Wird nicht so die Wahrnehmung für symbiotische Muster eher verschleiert? Besteht nicht die Gefahr, daß die Lösungen im Rahmen des symbiotischen Kollektivs erfolgen, anstatt diesen Rahmen selbst in Frage zu stellen?
  7. Ist das vielleicht die Ursache dafür, daß manche Klienten sich von den schweren Schicksalen ihres Systems nicht lösen können? Wenn es nach einer Familienaufstellung nicht zu einer Besserung kommt, – weil das Symbiosemuster nicht gelöst wurde? – suchen Leiter und Klient häufig nach weiteren „Familiengeheimnissen“, vermuten Morde, Vergewaltigungen, Inzeste, die in einer erneuten Aufstellung „angeschaut“ werden müssen – als könne dadurch etwas gelöst werden. So werden Toten in ihrer Totenruhe gestört und schlafende Hunde geweckt. Anstatt den Klienten aus seiner symbiotischen Verklebung mit den Schicksalen seiner Familie, aus seiner „kollektiven Symbiose“ zu befreien, werden ihm noch zusätzliche – reale und fantasierte! – schreckliche Schicksale seiner Familie auf die Seele gebunden!
  8. Das „setting“ des Familienstellens – das Aufstellen des Familienbildes mit Repräsentanten, das Wiederbeleben der ursprünglichen Beziehungsgefühle zu den Eltern – ist nach meiner Erfahrung ein elegantes Instrument, um die Symbiosemuster zu studieren, ein „falsches Selbst“ sichtbar und als Illusion bewußt zu machen. Das Einbeziehen der Repräsentanten mit ihrer „stellvertretenden“ Wahrnehmung bietet dem Therapeuten die Chance, dem Klienten wirksame Lösungs- Dialoge und –Rituale vorzuschlagen, die geeignet sind, eine maligne Verschmelzung zu lösen und ihm einen Weg aus dem Labyrinth der Symbiose zu seinem „wahren Selbst“ zu eröffnen.
  9. Symbiotische Verschmelzung ist immer mit eine Unterdrückung aggressiver Impulse verbunden, die sich dann nach innen richten – Autoaggression – oder sich unkontrolliert entladen. Das setting des Familienstellens erlaubt es, dem Klienten seine unterdrückte Aggression bewußt zu machen und ihm konstruktive Ausdrucksmöglichkeiten anzubieten. Besonders wichtig ist das bei Klienten mit Gewalterfahrung. Als Kind mußte er seine Wut, seine Mordfantasien unterdrücken, um zu überleben, mußte sie gegen sich selbst richten. Wenn der Leiter sie jedoch als angemessene, „autonome“ Reaktionen auf Gewalt und Übergriff würdigt und unterstützt werden, dann kann die „eingefrorene“ Aggression befreit und konstruktiv zum Schutz, zur Abgrenzung eingesetzt werden. Dann wandelt sich Haß zum „Schlüssel“ für die verschüttete Liebe. Die „Versöhnung mit sich selbst“ ermöglicht meist eine Versöhnung mit dem Täter.
  10. Die Symbiosemuster mit ihren Wahrnehmungs- und Identitätsstörungen sind offensichtlich in der Lage, die Selbstregulation des Einzelnen aber auch der Gruppe weitgehend zu blockieren. Das Familienstellen kann eine elegante und effektive Methode sein, dem Klienten Wege aus diesem symbiotische Labyrinth zu ermöglichen, die Entwicklung seiner Identität, seiner autonomen Wahrnehmung zu „initiieren“ und ihm so zu einer Selbstregulation, zu Autonomie und Emanzipation zu verhelfen.Ist das nicht das Ziel systemischer Arbeit?