„GEGENABGRENZUNG“  Fallvignette 17.11. 2012

Ein wichtiges Element im Lösungsprozess der Symbiose ist, nach der „Abgrenzung” gegenüber dem fremden Raum, der Schritt der „Gegenabgrenzung”.

Wenn jemand die eigene Grenze nicht genau wahrnehmen und schützen kann, geht er gerne über fremde Grenze, begibt sich in einen fremden Raum, übernimmt Fremdes, als sei es das Eigene, oder mischt sich ein, als sei er da zuständig. Wenn dann der andere protestiert und sich seinerseits abgrenzt, dann ist der Betroffene oft erstaunt, nicht selten gekränkt, verletzt und verbittert, fühlt sich missverstanden, denn er hat es ja „nur gut gemeint”!

Diese eigene Verletzbarkeit durch fremde Abgrenzung verstärkt oft das eigene Abgrenzungsverbot, wie ein Teufelskreis.

Für den Klienten ist es eine wichtige Chance, hier seine Wahrnehmung zu korrigieren und zu sehen: wenn ich das Recht habe, meine Grenze zu schützen, dann hat natürlich auch das Gegenüber das gleiche Recht! Manche erleben dies Ritual als kränkend, einige fühlen sich im Gegenteil dadurch erleichtert.

Dieser zweite Aspekt der „Gegenabgrenzung” tauchte kürzlich in einer Aufstellung auf. Die Reaktion der Klientin war sehr bemerkenswert.

Der Wahnsinn

Eine ca. 50jährige Klientin hatte vor Jahren schon einmal die Beziehung zu ihrem Vater aufgestellt. Der war doppelt belastet durch eigene Kriegserlebnisse als Soldat und die Schicksale seiner jüdischen Verwandten. Sie hatte als Kind grosse Nähe und Liebe zu ihm. Er erzählte seiner kleinen Tochter immer wieder von seinem inneren Grauen, das er nicht verarbeitet hatte. Im Alter überrollte es ihn, er war bei seinem Lebensende verwirrt.

In einer erneuten Aufstellung grenzte sich die Klientin gegenüber dem Vater ab. Diesmal erlebte sie zusätzlich als Ritual dessen Abgrenzung ihr gegenüber.

Diese Erfahrung hatte für sie eine befreiende Wirkung.

Sie schreibt:

auf der Bahnfahrt nach München habe ich in meinem Büchlein das Thema für das Seminar aufgeschrieben: „der Wahnsinn”.

Vor der Aufstellung war diese Klarheit weg und ich schwirrte in einer grässlichen Verwirrung, kaum aushaltbar. Was mich hielt, war: man kann und darf seinen Kindern nicht die eigenen Gedanken geben (aufzwängen, „einbläuen bis zur Vergasung”, Worte meines Vaters).

Ich konnte mich immer schon super von ihm abgrenzen…Ich wollte aber auch Nähe, und wenn ich meinem Vater näher kam, war da dieser Strudel, dieser Sog in sein Leid und es war grauenhaft, was er alles erlebt hat.

Jetzt, mit der Grenze von ihm zu mir, habe ich Distanz. Und mit der Distanz kommt die Achtung und die Einordnung Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft von mir und meinem Vater.

Mir fiel ein, dass mein Vater, als ich Kind war und etwas haben wollte, sinngemäß sagte: was willst du soviel? So viele liebe , brave und begabte Kinder sind vergast worden….

Den Sonntag nach dem Seminar habe ich noch in München verbracht, all die Veranstaltungen zum Volkstrauertag fanden erstmals außerhalb meines Körpers statt. Es ist Vergangenheit, die Achtung verdient.

Kommentar

In diesem Beispiel wird deutlich, dass der Vater keine – oder nur eine geringe – innere Grenze zu den leidvollen Schicksalen seiner Vergangenheit hatte. Er befand sich mit ihnen „in einem gemeinsamen Raum”, oder anders gesagt, „auf deren Totenschiff”. Es gab für ihn auch keine Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit, er konnte auch nicht zwischen den vergasten Kindern und seiner lebendigen Tochter unterscheiden, bzw. sah sie nebeneinander.

Die Tochter, wenn sie ihm nahe sein wollte, kam in diesen Raum, war schutzlos diesem Grauen ausgesetzt.

Die Erfahrung des Vaters, Unrecht und Gewalt wehrlos mit ansehen zu müssen, war extrem traumatisierend, führte offenbar zu einer Beeinträchtigung der Abgrenzung, in mehrfacher Hinsicht.

Autonomie-Diagramm

Autonomie-Diagramm

Deutlicher Zuwachs des Autonomie-Aspektes B (Verbindung mit dem Eigenen), geringer auch C (Integration aggressiver Impulse) und deutliche Verminderung der Symbiose-Aspekte D (Überabgrenzung) und F (Destruktion)