Unter diesem Titel wurde 2006 in einem Film (Regie Stefan Haupt) das Leben eines Mannes dokumentiert, dessen Familie im griechischen Bergdorf Distomo, unweit Delphi, 1944 von deutschen SS-Soldaten ermordet wurde. Es handelte sich angeblich um eine Vergeltungsaktion für einen griechischen Partisanenüberfall auf deutsche Soldaten. Etwa 200 Bewohner, Männer, Frauen, Greise, Säuglinge wurden nicht nur ermordet sondern in bestialischer Art gefoltert und geschändet. Der 4jährige Argyris, der das Massaker erlebt und überlebt hatte, kam in ein Waisenhaus. Da er untergewichtig war wählte ihn 1945 eine Delegation des Schweizer Roten Kreuzes aus, er kam in ein schweizer SOS-Kinderdorf, studierte Mathematik und Astronomie, wurde Lehrer.

Doch das Grauen liess ihn nicht los. Er kam nicht zur Ruhe, fand nicht zu einer eigenen Familie, blieb verbunden mit seinen drei Schwestern, die ebenfalls überlebt hatten, aber in Griechenland geblieben waren. Er unterstützte 67 bis 74 aus der Schweiz den Kampf der Griechen gegen ihr eigenes Miltärregime, dann ging er in Länder, um das Leid anderer lindern zu helfen, die von Massaker betroffen waren. Als das seine Gesundheit nicht mehr zuliess, verklagte er zusammen mit seinen Schwestern die Deutsche Regierung auf Schadensersatz. Das deutsche oberste Gericht lehnte ab, mit der Begründung: es habe sich um eine Militäraktion gehandelt. Die griechische Justiz unterstützte das Anliegen und veranlasste die Pfändung des Athener Goethe-Instituts, was erst im letzten Augenblick von der griechischen Regierung verhindert wurde.

 

Die systemische Sicht

eröffnet ein anderes Verständnis für diese Zusammenhänge und für die Notwendigkeit stimmiger Lösungen.

Ein solches Massaker hinterlässt Spuren in den Seelen der Nachkommen, der Opfer wie auch der Täter, über Generationen hinweg. Das erschwert eine Versöhnung, besonders dann, wenn das Unrecht von Seiten der Täter nicht zugegeben und zumindest symbolisch wiedergutgemacht wird.

(Der Film zeigt in mehreren Sequenzen den bekannten Kniefall Willi Brandts vor dem Warschauer Ghettodenkmal im Dezember 1970: Vor dem Ausmass des Grauens wird Bitte um Vergebung zu einer erneuten Ungeheuerlichkeit. Wo Worte nur missverstanden werden können, bleibt nichts ausser einem Trauern ohne Worte. Das aber ermöglicht Verbindung auf einer anderen Ebene, vielleicht auch Versöhnung. Als spontane Geste eines Mannes, der frei war, seinem eigenen Gefühl der Hilflosigkeit in Würde Ausdruck zu geben.)

 

Nachkommen der Opfer: Identifizierung mit den Opfern

Es ist deutlich, dass Argyris sich nicht frei fühlt. Er ist durch die „Schuld des Überlebens” gebunden an die vielen, die nicht überleben konnten und an ihr Leid, so als wäre es sein Eigenes. So als hätte er gar nicht das Recht, sich frei und unbeschwert zu entfalten, eine Familie zu gründen, Erfolg zu haben.Als hätte er nur dadurch ein Überlebensrecht, dass er an ihr Leid erinnere.

Um so mehr, als er auch gegenüber den anderen Überlebenden privilegiert war, die in Griechenland bleiben mussten! -Diese Konsequenz wird von Wohltätigkeitsorganisationen selten bedacht!

Ihm bleibt das Grauen gegenwärtig. Die Zeit, die sonst Wunden heilt, darf ihre heilende Wirkung nicht entfalten, als wäre bereits das Verrat am Leid der Opfer.

Der Rat der Psychiater, zu vergessen, muss ihm erscheinen wie eine Aufforderung zum Verrat, er kann ihn daher nur ablehnen, fast abschätzig.

Wo das Leid der Opfer soviel Raum einnimmt, da bleibt kein Raum für sein Eigenes, für ein freies, unbeschwertes Leben. Es bleibt eine Sehnsucht, aber die Handlungsfähigkeit ist beeinträchtigt durch das unbewusste Verbot. Das verstärkt Bitterkeit, nährt den Groll und die Unversöhnlichkeit. Eine Versöhnung mit dem eigenen Schicksal, mit dem der Opfer scheint unmöglich. Das aber wäre der Schlüssel für eine Versöhnung mit den Nachkommen der Täter.

Letztlich verliert auch das Schicksal der Opfer an Würde, an Einmaligkeit, wenn es von Späteren übernommen wird, als wäre es ihr Eigenes. Die Achtung für das Schicksal der Opfer geht verloren – ganz im Gegensatz zum eigentlichen Anliegen und der Überzeugung der Angehörigen!

Können so die Opfer ihren Frieden finden? Wenn es möglich wäre, sie danach zu fragen, was würden sie wohl dazu sagen?

Aus systemischer Sicht ist diese Dynamik der Identifizierung mit dem Leid naher Angehöriger häufig, um so mehr, wenn man selber überleben durfte/musste. Sie ist immer unbewusst. Nach einer gemeinsamen Traumaerfahrung eines ganzen Kollektivs nimmt sie oft die Form einer „kollektiven Identifizierung” mit den Opfern an. Sie kann als Ausdruck einer „kollektiven Symbiose” verstanden werden. Sie ist immer verbunden mit einem Verlust an Autonomie, der Zugang zu eigenen unbeschwerten Lebendigkeit ist eingeschränkt.

Und sie wird geradezu fixiert, wenn, wie in diesem Falle, das Unrecht vom Täter bzw. dessen Nachkommen nicht anerkannt und zumindest symbolisch wieder gut gemacht wird!!

Verlust der Autonomie setzt ein ungeheures Mass an Destruktivität frei. Diese unbewusste, aber sehr machtvolle Dynamik ist sehr häufig und sie scheint global zu zu nehmen. Sie hält alte Wunden offen, nährt Unversöhnlichkeit und Hass und ist der Motor für die zahlreichen Stammes- und Religionskriege bis hin zum islamistischen Terror. Sie nimmt den Betroffenen die Freiheit, sich für eine Versöhnung zu entscheiden. Terror und Gegenterror beschleunigen und verstärken sich gegenseitig, wie zwischen Israel und den Palästinensern.

 

Nachkommen der Täter: Identifizierung mit Tätern und – Opfern!

Aus systemtherapeutischer Erfahrung ist bekannt, dass auch die Nachkommen der Täter über Generationen hin belastet sind: durch unangemessene Identifizierung oder Überabgrenzung.

Von der Tätergeneration selbst wird das begangene Unrecht häufig geleugnet. Diese „Loyalität” gegenüber den Tätern ist genau genommen eine Form fehlender Abgrenzung, symbiotischer Identifikation. Das Verbrechen bleibt ohne Verfahren, ohne Strafe ohne Sühne. In unserem Fall hat auch die nächste Generation die juristische Klärung versäumt – hat aus einer falsch verstandenen „Loyalität” das Recht einer vorgeblichen Staatsraison geopfert.

Wenn es auf einer öffentlich-rechtlichen Ebene nicht gelingt, Unrecht als Unrecht zu benennen und die Täter zu zu bestrafen, die Opfer zu entschädigen, dann bleibt die ungeklärte Schuld im Raum und vergiftete die Seelen der Unschuldigen, der Nachgeborenen. Meist übernehmen Spätere, z.T. unmittelbare Nachkommen der Täter bewusst oder unbewusst das „Unerledigte” ihrer Vorfahren, als wäre es ihr Eigenes. Aus systemischer Sicht ist das jedoch immer eine Grenzverletzung, ein unangemessener Übergriff in eine fremde Zuständigkeit, für den der Betroffene mit seiner seelischen Gesundheit zahlen muss. Manche rechtfertigen – oder verurteilen die Täter moralisch, als hätten sie das Recht dazu, als wäre es ihre Aufgabe, den Tätern – oder den Opfern Genugtuung schaffen. Das nimmt ihnen den Raum für ihr Eigenes, entfremdet sie sich selbst. Manche scheinen gar mit Tätern und Opfern gleichzeitig identifiziert. Das kann darüber hinaus ihre Integrationsfähigkeit überfordern und eine Psychose auslösen.

Auch hier also Hinweise für eine „kollektive Symbiose”. Es fehlt die innere Distanz zum Geschehenen, es fehlt eine Grenze und damit ein „geschützter innerer Raum”, die Verbindung zu eigenen Selbstanteilen, zum eigenen Gefühl, damit Verlust der Autonomie. Hin und her gerissen zwischen Überidentifikation und Überabgrenzung kann eine authentische Geste des Mitgefühles, der Trauer nur schwer gelingen. Versöhnung bleibt aus.

 

Abgrenzung als Lösung?

Die fehlende Distanz, die fehlende Abgrenzung zeigt sich auf beiden Seiten, aber in unterschiedlicher Weise.

Die Achtung vor dem Schicksal der Opfer erfordert Abstand, die Fähigkeit, sich vom Anderen als getrennt erleben zu dürfen. Nicht durch „Identifikation”, nein, durch diesen Vollzug der Abgrenzung erst – der bisweilen als verboten, wie ein Verrat erlebt wird – kommt das Schicksal der Opfer wirklich in den Blick, wird das Schicksal der Opfer geachtet, bekommen sie ihre eigene Würde, ihre Grösse. Und die Nachkommen werden frei, ihr eigenes Leben zu leben, das anders sein darf als das der Opfer! Und können ihre eigene Würde, ihre Handlungsfreiheit, ihre Autonomie wieder gewinnen. Versöhnung wird möglich.

Es geht nicht um einfaches Vergessen, oder gar um Ungeschehen machen, im Gegenteil!

Das Geschehene darf nicht vergessen werden, aber das Erinnern sollte das Erinnerte nicht unangemessen vergegenwärtigen, sondern als etwas Vergangenes achten.

Wenn so die Lebenden den Opfern zeigen können, dass es ihnen gut geht, dann können auch die Opfer ihren Frieden finden.

Dann bleibt nur Achtung und Trauer….für die Opfer….

 

Abgrenzung auf der Täterseite

Damit es bei den Nachkommen nicht zu einer unbewussten Identifizierung – mit den Tätern, den Opfern oder beiden! – kommt, ist es wichtig, auf einer öffentlich-juristischen – nicht der persönlichen! – Ebene die Verbrechen in einer Gerichtsverhandlung zu klären, die Verantwortlichen angemessen zu bestrafen und den Opfern eine angemessene – notwendigerweise symbolische – Wiedergutmachung zukommen zu lassen.

Erst wenn Angehörige zu den Tätern eine angemessene Distanz haben, d.h. nicht auf der persönlichen Ebene Angehörige über die Täter urteilen, ihre Taten rechtfertigen – oder sühnen, dann können sie bei sich, bei ihrem eigenen Gefühl – und Mitgefühl – bleiben und Trauer für die Opfer und deren Nachkommen empfinden.

 

Terror und kollektive Symbiose

Erforderlich scheint es, die Verbrechen der Wehrmacht im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischem Regime zu sehen, das es verstanden hat, durch raffinierte Manipulationen und massiven Terror die eigene Bevölkerung zur Unterwerfung zu zwingen. Durch staatliche Gewalt und Terror war es offensichtlich möglich, die Autonomie der Individuen zu brechen, eine kollektive Selbst-Entfremdung zu bewirken, ein symbiotisches Kollektiv zu erzeugen

Diese Fähigkeit zu manipulieren – und sich manipulieren zu lassen – ist, auch wenn sie in Deutschland zu einem bisher unbekannten Exzess getrieben wurde, ein allgemein menschliches Phänomen. Und sie ist in Deutschland, aber auch global noch sehr virulent.

Die Erinnerung an die Verbrechen sollte daher verbunden werden mit einer Aufklärung über diese Zusammenhänge, verdeutlicht durch einzelne biografische Beispiele für Täter, Opfer – aber auch für solche die sich zur Wehr setzten, mit oder ohne Erfolg.

Das schafft Distanz, verhindert Identifikation, ermöglicht Verständnis und eigenes Wachstum.

 

Kollektive Symbiose und die globale Krise

Diese systemische Sichtweise lässt deutlich werden, wie der „symbiotische Bewusstseinszustand” mit seinem Verlust an Autonomie bei „Tätern” und „Opfern” ein ungeheures destruktives Potential entfaltet, welches sich selbst vertärkt.

Wichtiger als eine Bekämpfung des vermeintlich Bösen scheint daher eine neue

Auflärung

zu sein, welche den Betroffenen ihren Autonomieverlust bewusst macht und Wege aus der kollektiven Symbiose aufzeigt.

Da kollektive Symbiosemuster durch Trauma und Terror entstehen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Weltgemeinschaft Unrecht und Unterdrückung ächtet und wo immer möglich verhindert.

Die Verletzung der Menschenrechte ist nicht nur Unrecht, sie verletzt nicht nur die Würde der Betroffenen, nein, durch den damit verbundenen Autonomieverlust verändert sie über Generationen hinweg das Bewusstsein und die Entfaltungsmöglichkeit der Betroffenen, belastet sie durch die Freisetzung eines destruktiven Potentials, gegen sich selbst, gegen andere.

Dieses zunehmende Destruktive Potential hat keine eigene Autonomie! Es ist der Ausdruck von verlorener Autonomie. Und es bedroht das Fortbestehen, zumindest der Menschheit.

Und vielleicht eine Geste, ein Kniefall, vielleicht auch eine Spende – nicht als Wiedergutmachung, das wäre eine Illusion – nein, als Ausdruck einer Verbundenheit durch ein Schicksal, das grösser ist als wir, das wir nicht gewählt haben, aber dem wir zustimmen.