Der Film „Seelenvögel“

Dieser Film bringt uns die Schicksale von drei an Leukämie erkrankten Kindern und ihrer Familien nahe; leise, einfühlsam, in schönen Bildern, mit einer wunderbaren Hintergrundsmusik.

Der 6-jährige Lenny ist ein Kind mit Down-Syndrom.

Lenny hat einen angeborenen Herzfehler. Kaum hat er die Operation überstanden, erkrankt er an Leukämie. Chemotherapie, Remission, Rückfall. Dann wie ein Wunder, eine völlig unerwartete Remission. Und dann ein erneuter Rückfall. Eine Stammzellentransplantation wäre möglich. Lenny, ein fröhliches und verspieltes Kind will nicht mehr in die Klinik. Die Eltern, inzwischen ist ein drittes Kind, ein kleiner Paul geboren, stimmen dem zu.

Wir nehmen Teil an dem Leid des kleinen Lenny und seiner Eltern, seiner Schwester, aber auch an den Momenten, wo aus der Zustimmung zu dem, was ist, ein Friede entsteht.

Eindrücklich die Bemühungen der Erwachsenen, auch die Freunde Lenny’s aus seiner Kindergruppe am Thema Tod teilnehmen zu lassen. Lenny’s Sarg steht im Nebenzimmer der Spielgruppe. Schreck! – liegt er etwa darin?

Nein, der Sarg ist noch leer. Die Kinder dürfen etwas auf den Sarg malen, dürfen ihre Fantasien äussern. Ein kleiner Junge: „wenn sie dann Engel geworden sind und uns sehen, dann sind sie ja gar nicht weg!“

Nichts von Rebellion, Wut, Aufbäumen des Lebens gegen den Tod stört dieses friedliche Bild.

Auch die 16-jährige Pauline – ein zauberhaftes, engelsgleiches Wesen – stirbt schliesslich nach Monaten zwischen Leiden und Hoffen an ihrer Krankheit.

Nur der 10-jährige Richard, dessen Leiden auf der Intensivstation ausführlich dargestellt wird, scheint am Schluss geheilt. Man erlebt ihn wieder beim Fussballspiel mit seinen Freunden.

Berührend der Ernst und die Klarheit der Kinder. Bewegend wie die Eltern für ihr todkrankes Kind da sind und versuchen, seinen Tod zu bewältigen. Das verdient Mitgefühl und Respekt.

Der Film hat mich zu folgenden Überlegungen angeregt, die keinesfalls als Kritik zu verstehen sind. Als Therapeut habe ich es täglich mit den Themen Tod und Abschied zu tun, und ich sehe immer deutlicher, wie auch das Leben, die Lebendigkeit davon bestimmt wird.

„Trauerkult“

Ich glaube, in diesem Film eine Botschaft wahrzunehmen, die ich in Frage stelle, vielleicht für manche auf provozierende Weise. Dazu muss ich etwas ausholen.

Mein Onkel Robert stürzte als Luftwaffenoffizier bei einem Übungsflug mit dem Flugzeug ab, als meine Mutter mit mir schwanger war, und ich trage seinen Namen! Er wurde von meiner Grossmutter verklärt und SO in Erinnerung gehalten, dass die Lebenden ihm gegenüber verblassten.

Meine Grossmutter hatte als junge Frau, zusammen mit ihren drei jüngeren Schwestern ihre sehr geliebte Mutter verloren. Ihr zu Ehren, gegen den Willen des Vaters, errichteten die vier Schwestern eine kleine Grabkapelle auf dem Münchner Nordfriedhof. Dort gibt es ein “Tagebuch” in das alle Schwestern, deren Kinder und Kindeskinder bei jedem Besuch einen Eintrag machten. Um die Mutter daran teilhaben zu lassen??

Es scheint eine Art des “Trauerns” (“Trauerkult”) zu geben, die den Verstorbenen nicht loslässt, sondern im Gegenteil festhält.

Bisweilen scheinen die Angehörigen geradezu auf das “Schiff” des Verstorbenen zu steigen, um sich von dem Verstorbenen nicht trennen zu müssen, so dass sie für andere nur noch auf diesem “Totenschiff” erreichbar sind?!

Die fehlende Grenze

Ich sehe täglich in meiner Arbeit, wie schwer es Menschen fällt, sich als getrennt vom anderen zu erleben, einen “geschützten inneren Raum” zu errichten, in dem sie ganz “sie selber ” sein dürfen, unabhängig davon,was andere von ihnen denken oder von ihnen erwarten. So als sei es ein Zeichen von “Liebe”, den eigenen inneren Raum zur Verfügung zu stellen für fremde Gefühle, fremde Bedürfnisse, fremde Schicksale. So als sei es verboten, sich abzugrenzen, zur eigenen Wahrnehmung, eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, zur eigenen Lebendigkeit zu stehen.

Dies “Symbiosemuster” scheint unter anderem dann zu entstehen, wenn man sich von einem früh verstorbenen Angehörigen nicht verabschieden konnte. Und es ist dafür verantwortlich, dass man sich auch später von Verstorbenen nicht verabschieden kann.

Diese fehlende Abgrenzung wird, wie gesagt, oft als “Liebe” missverstanden.

Nicht-Getrenntsein als falscher Trost?

In dem Film “Seelenvögel” wird eine Botschaft vermittelt: die buddhistische Vorstellung von “Nicht-Getrenntheit”. Sie wird – so scheint mir – dazu (miss-) braucht, um diese fehlende Abgrenzung zu “verbrämen”, um die Not der fehlenden Abgrenzung zur Tugend des Ungetrenntseins umzudeuten?

Mindestens missverständlich – wenn nicht sogar falsch – ist auch die buddhistische Forderung nach Überwindung des Ich – oder des Selbst.

Speziell, wenn sich Menschen davon angesprochen fühlen, die mit ihrem eigenen Selbst noch gar nicht verbunden sind. Und nach meiner Einschätzung trifft das auf alle meine Klienten – und auch auf manche Therapeuten zu – mich eingeschlossen!

Der Dalai Lama hat einmal geäussert, er habe kein Verständnis dafür, dass man sich selber hassen kann! Möglicherweise ist ihm – und anderen östlichen Lehrern? – das Ausmass von Symbiose und Selbst-Abspaltung in der christlichen Kultur unbekannt.

Schamanisches Verständnis von Tod

Es scheint, wir haben das archaische Wissen verloren: Der Tod ist Teil des Lebens, ist Grenze des Lebens.

Die Nomaden bestatteten ihre Verstorbenen unterwegs: ein Erdloch, bedeckt mit Steinen – gegen die Wölfe – und einem Grasboden.

Kein Grab, kein Gedenkstein, keine Erinnerungskult.

Wir kommen und sind da, wir gehen, und sind nicht mehr da.

Das wirkt auf uns, die wir vom „süssen Gift“ der Symbiose verwirrt sind, nüchtern, kalt.

Es befreit das Leben zu dem, was es eigentlich ist: ein einmaliges kostbares Geschenk!

Tod und Leben sind gleich gültig. Dies Wissen erlaubt uns, ganz zu leben und ganz zu sterben, wenn es an der Zeit ist. Es erlaubt uns auch, die Sterbenden gehen zu lassen.

Wenn diese Grenze nicht mehr gilt, vermischt sich auf merkwürdige Weise Leben mit Tod. Die Lebenden können nicht lebendig sein, und die Gestorbenen dürfen nicht gehen, können ihren Frieden nicht finden, dürfen nicht gestorben sein.

Abschied

Wie anders, wie hilfreich und heilsam für den Abschied ist die archaische, in allen Kulturen verbreitete Vorstellung, dass es für die Verstorbenen einen guten Platz gibt – „im Licht“ oder „bei Gott“. Und dass die Zurückgebliebenen die Verstorbenen durch übermässige Trauer und Schuldgefühle daran hindern können, diesen Frieden zu finden.

Als Beispiel dies Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm, ein Heilmärchen.

Das Totenhemdchen

Es hatte eine Mutter ein Büblein von sieben Jahren, das war so schön und lieblich, daß es niemand ansehen konnte, ohne mit ihm gut zu sein, und sie hatte es auch lieber als alles auf der Welt.

Nun geschah es, daß es plötzlich krank ward, und der liebe Gott es zu sich nahm; darüber konnte die Mutter sich nicht trösten und weinte Tag und Nacht. Bald darauf aber, nachdem es begraben war, zeigte sich das Kind nachts auf den Plätzen, wo es sonst im Leben gesessen und gespielt hatte; weinte die Mutter, so weinte es auch, und wenn der Morgen kam, war es verschwunden.

Als aber die Mutter gar nicht aufhören wollte zu weinen, kam es in einer Nacht mit seinem weißen Totenhemdchen, in welchem es in den Sarg gelegt war, und mit dem Kränzchen auf dem Kopf, setzte sich zu ihren Füssen auf das Bett und sprach:

„Ach Mutter, höre doch auf zu weinen, sonst kann ich in meinem Sarge nicht einschlafen, denn mein Totenhemdchen wird nicht trocken von deinen Tränen, die alle darauf fallen.“

Da erschrak die Mutter, als sie das hörte und weinte nicht mehr. Und in der anderen Nacht kam das Kindchen wieder, hielt in der Hand ein Lichtchen und sagte: „siehst du, nun ist mein Hemdchen bald trocken, und ich habe Ruhe in meinem Grab“

Da befahl die Mutter dem lieben Gott ihr Leid und ertrug es still und geduldig, und das Kindchen kam nicht wieder, sondern schlief in seinem unterirdischen Bettchen.

Systemische Sicht

Abschied im Tod ist jedoch nur möglich, wenn man sich schon im Leben seelisch als voneinander getrennt erleben kann. Wenn man das Eigene vom Fremden unterscheiden kann.

Das scheint heute eine Ausnahme zu sein!

Wenn Eltern früh einen nahen Angehörigen verloren haben, so konnten sie sich meist nicht von ihm verabschieden. Sie stehen buchstäblich mit einem Bein auf dem „Boot des Verstorbenen“.

Das hindert sie daran, sich ganz ihrer eigenen Lebendigkeit, dem Partner, den Kindern zuzuwenden. Im Gegenteil, die Lebendigkeit, der Eigensinn, das Unangepasste ihrer Kinder strengt sie an, sie ziehen sich davor zurück.

Wenn Eltern nicht Eltern sein können, können Kinder nicht Kinder sein.

Kinder, in ihrem Bedürfnis nach Nähe zu den Eltern, sind bereit, sich den Eltern anzupassen. Bisweilen steigen sie zu ihnen auf das „Totenschiff“, um ihnen nahe zu sein. Um die Trauer der Eltern zu mindern, und/oder um ihre Zuwendung zu bekommen, „schlüpfen“ sie in die Rolle der Verstorbenen, ahmen zum Teil deren Schicksal nach, deren Leid und Tod, unterdrücken dabei ihre eigene Lebendigkeit ihre Wut, ihren Zorn.

Der Begriff Parentifizierung beschreibt diese Beziehungsverwirrung zwischen dem Kindes und den Eltern. Kinder geben den Eltern Halt, anstatt von ihnen Halt zu bekommen. Auch in dem Begriff „verwaiste Eltern“ – Selbsthilfeorganisation von Eltern, die ein Kind verloren haben – spiegelt sich diese Verwirrung wieder.

Die Würde der Kinder

Welch Kontrast zu der klaren, fast schockierenden Aussage des libanesischen Philosophen und Dichters Khalil Gibran !

VON DEN KINDERN

Eure Kinder sind nicht eure Kinder.

Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.

Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,

und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.

Ihre dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken.

Ihre dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen,

denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,

das ihr nicht besuchen könnt,

nicht einmal in euren Träumen.

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,

aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.

Denn das Leben läuft nicht rückwärts noch verweilt es im Gestern.

Ihr seid die Bogen,

von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.

Der Schütze

sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,

und ER spannt euch mit seiner Macht,

damit seine Pfeile so schnell und weit fliegen.

Lasst eure Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;

Denn so wie ER den Pfeil liebt, der fliegt,

so liebt er auch den Bogen,

der fest ist.

Was bedeutet das für Tod und Abschied?

Solange ich noch mit dem Verstorbenen symbiotisch verbunden bin, als sei er ein Teil von mir, und ich ein Teil von ihm, solange ich mich noch nicht als abgegrenzt vom Verstorbenen wahrnehme, kann ich ihn nicht gehen lassen, kann mich nicht von ihm verabschieden. In diesem ungetrennten Zustand wäre das wie Amputation! Ich kann nicht sterben, aber ich kann auch nicht leben. Das ist traurig, aber kein hilfreiches, lösendes Trauern! Da ist “Loslassen” unmöglich!

Die von mir verwendeten Abschiedsrituale beinhalten als ersten Schritt die Abgrenzung. Die unbewusste “Vermischung” von Gefühlen und Energien, die im Zustand des Ungetrenntseins besteht, kann durch Rückgaberituale geklärt werden. Diese Klärung ist schmerzhaft, wird von den Klienten bisweilen als lieblos, gefühllos, ja als Verrat erlebt. Erst nach dieser Klärung, nach der Wiederverbindung mit DEM Selbstanteil, der “unbeschwert und lebendig” sein darf, ist ein Abschied möglich, der nicht wie eine Amputation erlebt wird. Und dann kommt – bisweilen nach 30 Jahren! – der Trennungsschmerz, heftig, aber kurz! Der heilsame

Schmerz, der zu Neuem, zum Leben befreit!

Ein systemisch-schamanisches Abschiedsritual

erfolgt in mehreren Schritten, die eine tiefere innere Logik besitzen.

Zunächst ist es wichtig, den Gefühlen Raum zu geben. Nicht nur Schmerz und Trauer sondern auch Wut und Hass darüber, dass man so früh vom anderen verlassen wurde.

Das bereits verbindet mit der eigenen Lebendigkeit, auch wenn diese Gefühle „sozial nicht erwünscht sind“.

Dann geht es darum, zu überprüfen, ob man unbewusst mit dem Verstorbenen selbst – oder mit dessen früh verstorbenen Angehörigen! – identifikatorisch „verschmolzen“ ist. Wenn das der Fall ist, dann kann der Betroffene diese Verschmelzung durch eine bewusste Entscheidung lösen.

Nun gilt es, zu unterscheiden, was an Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen gehört wirklich zu mir, was zum Anderen. Dann ist es möglich, durch Rückgabe-Rituale sich von Fremden zu trennen, und sich wieder mit dem unterdrückten Eigenen zu verbinden.

Erst dann kann man sich, im Angesicht zum Anderen, vielleicht zum ersten Mal als vollständig, als authentisch fühlen.

Um die Unterscheidung Eigenes/Fremdes nicht zu verlieren, um die Grenze aufzubauen, die den geschützten Raum schafft für das „Eigene“, bedarf es jetzt noch der Grenze, bedarf es eines dynamischen Abgrenzungsrituals. Wenn der Klient zeigt, wie er seine Grenze gegenüber dem Verstorbenen schützt, wird meistens deutlich, dass sich das für ihn als verletzend, als lieblos, als verboten anfühlt. So als sei es verboten, ein selbstbestimmtes, autonomes Leben zu führen.

Dies „verinnerlichte unbewusste Abgrenzungsverbot“ scheint der Kristallisations-Kern des Symbiosekomplexes zu sein.

Hier ist wieder eine bewusste Entscheidung für die Abgrenzung erforderlich, trotz des Gefühls von Verbot.

Das geht oft nur mit Ermutigung des Therapeuten!

Das klingt paradox: Ein direktives Verfahren soll zu mehr Autonomie führen!?

Dieser Schritt ist jedoch die Wende. Nicht selten erfolgt eine schlagartige Wandlung: Die Betroffenen richten sich innerlich auf, bekommen ihre Würde, ihre Schönheit, ihre Lebendigkeit zurück.

Die durch das Abgrenzungsverbot blockierte konstruktive Energie war destruktiv geworden, richtete sich gegen das eigene: Selbsthass, Selbstzweifel, Selbstverletzung, Schuldgefühle, Ängste, Lähmung, Krankheit.

Im Abgrenzungsritual wird der „Kanal“ für die konstruktive Aggression wieder „frei“, das destruktive Potential kann sich nach und nach wieder konstruktiv entladen.

Der Klient erlangt seine Handlungsfähigkeit, seine Orientierung zurück, er kann nun „Kapitän auf dem eigenen Boot“ sein.

Wenn die Verstorbenen ihren Frieden finden können, dann können die Lebenden leben!