Das falsche Selbst
Das Phänomen der symbiotischen Verschmelzung ist immer verbunden mit einer Störung der eigenen, authentischen Wahrnehmung und Orientierung, und der eigenen Identität. Die Betroffenen entwickeln ein „falsches Selbst” (Winnikott).
Dies „falsche Selbst” drückt sich im setting des Familienstellens dadurch aus, daß der Klient „am falschen Platz” steht. Entweder vertritt er für die Eltern fehlende oder früh gestorbene Angehörige oder „er kennt sich am Platz der Eltern besser aus als am eigenen”, so als „stecke” er buchstäblich in einem Elternteil drin, sei mit ihnen „verschmolzen”.

Wenn ein Kind von den Eltern nicht als Kind gesehen werden kann, als der , der er/sie ist, dann identifiziert es sich mit dem, was die Eltern in ihm sehen, von ihm erwarten und entwickelt so eine falsche Identität, ein falsches Selbst, um von den Eltern wahrgenommen zu werden, für sie bedeutsam zu sein, um überleben zu können.

Brüchiges Selbstgefühl
Dies falsche Selbst ist immer brüchig. Der Klient glaubt, die übernommenen, einem Kind nicht angemessenen Rollen ausfüllen zu müssen, gleichzeitig erfährt er immer wieder, daß er sie nicht ausfüllen kann -„mission impossible” .
Er schwankt zwischen grandioser Selbstüberschätzung und dem Gefühl schuldhaften Versagens. Er verliert die Achtung für den Elternteil – und für sich selbst.
So sehr die – illusorische – Grandiosität auch das spätere Leben erschwert, vielleicht hat sie dem zerbrechlichen kindlichen Ich einmal das Überleben ermöglicht, in einer Zeit, als die Eltern realen Kontakt und reale Wärme nicht geben konnten?

Eingeschränkte Handlungsfähigkeit
Verschmelzung beeinträchtigt die Handlungsfähigkeit des Betroffenen, unter zwei Aspekten: der Klient steckt im Elternteil drin, wie ein „Blinder Passagier”, so daß sein eigenes Boot ohne Kapitän ist! Er sieht sich und die Welt durch die Augen des Elternteils.
Gleichzeitig erlebt er aber auch, daß der Elternteil in ihm selber sitzt („Introjekt”), wie ein blinder Passagier. Er hört dessen Kommentare und Bemerkungen und vielleicht hat er auch den Eindruck, dieser blinde Passagier drücke die Bedienungselemente seines Bootes, als könne er auch aus diesem Grund nicht „Kapitän auf seinem Boot” sein.

Fallbeispiel „das falsche Selbst”
W. ein kräftiger ca. 35 jähriger Mann leidet an einer Borderline-Erkrankung, er kommt mit seinem Leben nicht zurecht. Er hat keine Beziehung, hat Probleme mit Kollegen, mit Kunden, mit dem Finanzamt, da er Steuerzahlungen über Jahre einfach versäumt hat.
Er sagt von sich selbst, daß er das Gefühl habe, falsch zu sein, nicht richtig zu sein, so als dürfe er sich selbst nicht wirklich zeigen, als müsse er sich selbst verstecken.

Herkunftsfamilie:
Die Mutter der Mutter hat aus unbekannten Gründen ihren Mann aus dem Haus geworfen, den Kindern den Kontakt zu ihm verboten.

Aufstellungsbild:
Die „Mutter” (Stellvertreterin) steht am Rande des Stuhlkreises mit dem Gesicht nach außen. Hinter ihr, in ihrer Richtung blickend, in ca. 4 m Abstand der „Vater”, seitlich von ihm der „Sohn”, so daß er Vater und Mutter sehen kann.
Sein „wahres Selbst” stellt der Klient weit hinter sich, außerhalb des Kreises direkt vor die Türe mit dem Rücken zur Gruppe.
In Richtung der Mutter stelle ich einen Vertreter für ihren Vater. Zu dem fühlt sie sich hingezogen, nachdem sie sich von ihm „verabschiedet” hat, kann sie sich dem Sohn zuwenden.
Dem Sohn biete ich an, zunächst sich seinem wahren Selbst zu zuwenden. Er kann noch nicht einmal hinschauen, äußert heftige Abwehr, Abscheu, ja Ekel. Es ist zwar eine tiefe Sehnsucht zum Selbst zu ahnen, aber der Schmerz wäre zu groß, so daß er es lieber verachtet und abwertet.

Die Überprüfung ergibt, daß er heftig mit Mutters verachtetem Vater identifiziert ist, im Sinne einer symbiotischen Verschmelzung.
Durch ein archaisches Lösungsritual gelingt es, diese Verschmelzung zu lösen.
Da der Großvater buchstäblich „in ihm drin steckt” – nicht nur er im Großvater! – bedarf es noch eines besonderen Abgrenzungsrituals, in dem er den „Großvater” mit all seiner Kraft aus seinem eigenen inneren Raum – den dieser offensichtlich besetzt gehalten hatte – hinausschiebt.
Die Folge dieser „Entschmelzung” ist, daß er nun zum ersten mal sich seinem Selbst zuwenden kann, trotz noch vorhandener Bedenken vorsichtig auf es zu gehen kann, ihm die Hand reichen kann, es zaghaft umarmen kann.

Mit seinem „wahren Selbst” an der Hand kann er sich nun der Mutter zuwenden. Offensichtlich hat sie ihn massiv manipuliert, durch Suiziddrohungen erpreßt.
Er kann ihr sagen: „das darf ich dir nicht verzeihen. Ich habe dich dafür gehaßt, ich stehe dazu”.
Die Überprüfung ergibt, daß er für die Mutter nicht nur den fehlenden Vater ersetzen wollte sondern auch den Partner, ihren Mann, den sie offenbar nicht an ihrer Seite haben konnte. Und daß er selbst mit der Mutter symbiotisch verschmolzen ist.
Nach dem Vollzug des „Entschmelzungsrituals” und der Rückgabe -rituale fehlt jetzt noch das aktive Abgrenzungsritual.
Obwohl es dem kräftigen Mann keine Mühe macht, die zierliche „Mutter” aus „seinem inneren Raum” hinauszuschieben, hat er keinen Erfolg: er selbst fühlt sie immer wieder direkt vor sich!!
Was tun?
Ich schlage ihm vor, sich von seinem „Selbst” seine „Seelenenergie” zurückgeben zu lassen. Nachdem die Stellvertreterin seines Selbst ihm auch im Rücken und über dem Kreuzbein Seelenenergie zurückgegeben hat, fühlt er sich so „bei sich selbst”, daß er die Mutter aus seinem Bereich hinausschieben kann – mit bleibendem Erfolg!
Nun kann er ihr auch sagen: Mutter ich bin ich selbst und ich stehe dazu, egal ob es dir recht ist. Ich bin richtig, ich bin so, wie Gott mich gewollt hat!

Die Identitätsverwirrende Wirkung seiner Mutter scheint aber so bedrohlich, daß er sich nicht ihr annähern kann. Für ihn stimmen die Sätze: „Ich acht das Leben, das ich von dir habe, indem ich es vor dir schütze.”
Nun bleibt noch die Versöhnung mit dem Vater, der in dieser Familie auch nicht so präsent sei konnte, er kann seine Kraft und Liebe spüren und nehmen.

Kommentar
Die Arbeit mit Stellvertretern macht drastisch deutlich, wie sehr der Klient durch seine Identifizierung mit dem ausgestoßenen Großvater und die Verschmelzung mit seiner Mutter von seinem eigenen Selbst entfernt war. Und welch heftiger innerer Prozeß erforderlich war, um sich seinem Selbst anzunähern und schließlich mit ihm zu versöhnen.

Identifizierungen und symbiotische Verschmelzungen sind sehr häufig. Für die ungewöhnliche Dramatik dieses Beispiels ist möglicherweise die Tatsache von Bedeutung, daß der Klient mit einer Person identifiziert war, die von der Familie ausgestoßen war, und damit auch deren Schicksal übernommen hatte, ausgestoßen und abgelehnt zu werden. Denkbar ist auch, daß der Großvater sich schuldig gemacht hat und daß dies Familiengeheimnis tabuisiert wurde.

Dies Beispiel zeigt: Symbiotische Verschmelzung und „falsches Selbst” bedingen notwendigerweise, daß das „wahre Selbst” abgetrennt, abgespalten, bisweilen abgewertet werden muß. Das entspricht der tiefen Identitätsstörung und der massiven Einschränkung der Selbstwahrnehmung – der Wahrnehmung der eigenen authentischen Gefühle, besonders der eigenen Wut und Aggression!
Klienten mit dieser Dynamik können sich daher nicht nach ihren eigenen Gefühlen orientieren, auch die Regulierung von Nähe/Distanz in Beziehungen ist dadurch beeinträchtigt.
Sie können sich daher nur über „ausgedachte” Gefühle, oder über außen, über die Wahrnehmung und die Erwartungen anderer orientieren. Das erklärt einerseits ihre „Kopflastigkeit”, andererseits ihre Anpassungs-und Verschmelzungstendenzen, ihre Neigung zur Abhängigkeit oder „pseudoautonomen” Überabgrenzung.

Die Arbeit mit Stellvertretern bei Systemaufstellungen erlaubt es, diese Zusammenhänge auf einer symbolischen Ebene deutlich zu machen. Diese symbolische Ebene ermöglicht es auch, durch Rituale Lösungen aufzuzeigen, welche unmittelbar auf die nonverbale Ebene des Unbewußten einwirken und eine nachhaltige Wirkung entfalten.
Für mich überraschend – aber eigentlich sehr stimmig – war in diesem Beispiel, daß der Klient sich seinem Selbst erst nähern konnte, als er die symbiotische Verschmelzung mit Großvater und Mutter löste. Daß sein „wahres Selbst” erst Platz bei ihm hatte, als er seinen „inneren Raum” von den „blinden Passagieren” befreit hatte.

Das Setting des Familienstellens ist hervorragend geeignet, die Dynamik szenisch zu verdeutlichen und in einer sehr verdichteten Form Lössungsstrategieen anzubieten die geeignet sind, eine nachhaltige Veränderung zu bewirken.