FALLBEISPIEL ZWANGSNEUROSE, ANGSTSTÖRUNG

Viktoria, eine 45-jährige Frau kommt am 23.3.2017 in die Behandlung, auf Empfehlung ihrer Therapeutin. Sie ist verheiratet, keine Kinder. Sie leidet seit ca. 15 Jahren unter einer Zwangsstörung: sie wasche sich immer wieder die Hände, könne sich nur dann auf einen Stuhlsetzen, wenn dort keine Haare liegen, hat Angst vor Läusen, und – deshalb? – auch vor Kindern, obwohl sie sich Kinder wünscht.

Im Herbst 2015 wurde der Zwang so schlimm, dass sie tageweise nicht mehr das Haus verliess. Da ihr Mann durch diese Zwänge sehr belastet war, drängte er sie zu einer Therapie, die sie im Februar 2016 begann. Inzwischen 10 Sitzungen. Im August 2016 zog ihr Mann aus.

Anamnese: mit 12 Jahren plötzlicher Verlust des Vaters (Verkehrsunfall). Sie suchte Halt bei einem Familienfreund. Nach einiger Zeit entwickelte sich daraus eine Liebesbeziehung zu diesem – verheirateten – Mann. Sie fühlte sich schuldig, durfte mit niemanden darüber sprechen. Dieser quälende Zustand hielt 17 Jahre an. Erst im Frühjahr 2017 konnte sie erstmals ihrer Familie und ihrem Mann von dieser Geschichte erzählen.

AUTONOMIE-DIAGRAMM

Autonomiediagramm-ZwangserkrankungDas Diagramm zeigt eine extreme Einschränkung der Autonomie-Aspekte Abgrenzung (A), aber auch der Selbstverbindung (B) und der gesunden Aggression (C). Die Symbioseaspekte Überabgrenzung (D), Übergriffigkeit/Kontrolle (E) und Selbst-Destruktion (F) waren massiv erhöht.

Die Behandlung bestand in einer Serie von Einzelsitzungen und einem Aufstellungs-Seminar (Rückmeldung beim jeweils nächsten Termin). Dabei ging es jeweils um die Abgrenzung:

23.3.2017 zum Ehemann (nach Aufstellung zunächst energiegeladen, kämpferisch, keine Einbrüche mehr wegen Ehemann)

6.4.2017 zum damaligen Partner ihrer verbotenen Liebesbeziehung (danach sehr mitgenommen, nicht der erhoffte Aufschwung. In der Zwischenzeit Vaters Todestag)

20.4.2017 Abgrenzung und Abschied vom Vater (danach noch entspannteres Verhältnis zu Ehemann, bzw. erstmals auch Wut auf ihn!)

9.5.2017 Abgrenzung zu einem früh verlorenen Zwilling (danach noch bessere Abgrenzung gegenüber Ehemann)

23.5.2017 Abgrenzung zur Mutter

Anfang Juni 2017 Aufstellungsseminar, Thema verlorener Zwilling. (Danach hat sich viel gelöst, speziell gegenüber Mann. Sie hat weniger Erwartungen an ihn und kann seine Abgrenzung besser ertragen.)

6.7.2017 Die Zwänge und Ängste sind inzwischen viel geringer geworden, aber noch nicht verschwunden.

In einer Aufstellung untersucht sie das „blockierende Element“, das sie daran hindert, mit ihrem „Selbst“ verbunden zu sein, genauer mit dem Selbstanteil, das „keinen Zwang und keine Angst braucht“. Und es taucht auf: die traumatische Liebesbeziehung ihrer Jugend. Offensichtlich hatte sie noch das Trauma als Introjekt in ihrem Raum gespeichert. Dies Phänomen ist typisch für Trauma und erklärt, warum die Behandlung so mühsam sein kann.

Sie geht durch den Prozess, Abgrenzung, Gegenabgrenzung (auch auf der „Zeitachse“), Verbindung mit dem eigenen Selbst. Danach sagt sie ganz erstaunt: ich fühle mich zum ersten mal angstfrei.

AUTONOMIE-DIAGRAMME

der Behandlungstage 23.3. (rot). 6.4. (grün) und 6.7.2017(blau).

Autonomiediagramm-Zwangserkrankung-BehandlungInnerhalb von 4 Monaten mit insgesamt 6 Einzelsitzungen und einem Therapieseminar zeigt sich eine sehr gute Entwicklung: die Autonomiewerte sind sehr gewachsen, die Symbiosewerte haben erheblich abgenommen. Damit korreliert eine deutliche Besserung des Befindens.

KOMMENTAR

Dies Fallbeispiel zeigt deutlich, wie mit Hilfe der verschiedenen „Formate“ der Systemischen Selbst-Integration (Beziehungsklärung, Abschied von einem verlorenen Zwilling, Abgrenzung eines Trauma-Introjektes) innerhalb relativ kurzer Zeit eine quälende Zwangsstörung wesentlich gebessert werden konnte. Auch im Autonomie-Diagramm zeigt sich eine deutliche Zunahme der Autonomie-Aspekte bei Verringerung der Symbiose-Aspekte.

Ero Langlotz, München, Juli 2017