Diese Entwicklung verlief schrittweise mit einer erstaunlichen inneren Logik, wie ein selbstgesteuerter Prozess. Ich hatte nicht den Eindruck, da etwas „machen” zu können. Ich selbst war jedesmal sehr überrascht über das Neue, das da auftauchte und glaubte, jetzt sei es vollkommen. Aber es entwickelte sich immer weiter – und ein Ende ist nicht ab zu sehen.

Ablösung durch das Nehmen der Eltern”

So nannte ich mein erstes Konzept. In den Aufstellungen wurde deutlich, dass Eltern durch schicksalhafte Ereignisse „verstrickt” waren. Ich sah, dass Kinder durch diese „Verstrickungen” der Eltern nicht an ihrem Platz waren. Sie konnten nicht als Kind die Liebe der Eltern nehmen, fühlten sich noch bedürftig und konnten sich deshalb nicht von den Eltern ablösen.

Identifizierungen

Im Rahmen einer Beziehungsklärung zum Beispiel zur Mutter war es daher wichtig, alle möglichen Rollen, die ein Klient für die Mutter hätte übernehmen können, gezielt zu überprüfen und zu lösen. Der Klient stellt sich an den Platz – von Mutters früh verlorenem Vater/Mutter oder Geschwister – und kann spüren, ob ihm dieser Platz „bekannt” vorkommt. Wenn das der Fall ist, kann er sich entscheiden , da auszusteigen. Erst dann konnte er sich der Mutter gegenüber als Kind fühlen und sich von ihr ablösen. Bisweilen jedoch schien diese Ablösung nicht gelingen zu wollen.

Rückgabe-Ritual

Etwa 1997, ein Aufstellungsseminar in Todtmoos. Eine Klientin stand vor der „Mutter”, hatte Mitleid mit ihr und ihrem schweren Schicksal. Sie hatte bereits alle Identifizierungen gelöst. Aber immer noch hielt sie etwas bei der Mutter fest. Sie hatte das Gefühl, für die Mutter etwas tragen zu müssen, für sie gross und stark sein zu müssen. Sie konnte sich selbst nicht als Kind spüren, konnte die Mutter nicht als Mutter achten, konnte nicht wie ein Kind die Liebe der Mutter nehmen. Das hinderte sie daran, sich von der Mutter abzulösen. „Da ist soviel Schweres, was ich für sie tragen muss”.

Im Raum lagen grosse, schwere runde Kieselsteine. Mir kam der Einfall, ihr einen schweren Stein als Symbol für das übernommene Schwere zu geben und sie aufzufordern, das der Mutter zurück zu geben. Sie versuchte es, etwas ungläubig – ist das der Mutter nicht zu schwer? Als dann die „Mutter” den Stein nehmen konnte, und sich besser fühlte als zuvor(!), da war sie erleichtert und auch erstaunt. Und es wurde deutlich, dass sie der Mutter mit der Bürde auch etwas von ihrer Würde abgenommen hatte, dass sie ein Stück Achtung für die Mutter und für deren Kraft verloren hatte. Und wie beides durch das Rückgaberitual wieder in Ordnung kam. Nun musste sie der Mutter gegenüber nicht mehr stark und erwachsen sein, nun konnte sie sich gegenüber der Mutter als Kind fühlen und als Kind Mutters Liebe annehmen.

Verschmelzung”

Einige Jahre später. Wieder eine Aufstellung mit einer extrem belasteten Mutter. Die Klientin hielt den schweren Stein – Symbol für Mutters Last – in ihren Händen und konnte das der Mutter nicht zurück geben. Sie hatte der Mutter gegenüber keinen Vorwurf, nur grosse Liebe und sehr viel Mitleid. Mutter und Tochter sahen sich gegenseitig in „inniger Ratlosigkeit” an. Was tun? Da kam mir die Idee: vielleicht ist sie ja identifiziert nicht nur mit Mutters früh verstorbenen Eltern, sondern auch mit der Mutter selber? Vielleicht ist sie ja an Mutters Platz? Dann wäre es für sie ja gar keine Erleichterung, der Mutter ihr Schweres zurück zu geben – weil sie es ja dann an Mutters Platz tragen müsste. Sehr skurril – aber irgendwie stimmig. Ich beschloss, diese Hypothese sofort zu „testen”. Ich liess sie den Stein auf den Boden legen und sich an Mutters Platz zu stellen, um zu sehen, ob sie sich da „zuständig” fühlt – und sie strahlte! Das war ihr Platz! Es fiel ihr gar nicht leicht, zu erkennen, dass das ja gar nicht ihr Platz ist und dass sie da aussteigen könnte. Als sie sich dazu entscheiden konnte, als sie – von ihrem eigenen Platz aus – zur Mutter sagen konnte: Mutter das ist dein Platz, du bist du – und ich bin ich! Da fühlte sich das zunächst falsch und lieblos an. Aber sie sah ein, dass das stimmt. Und nun konnte sie der Mutter – mit Achtung – den Stein zurück geben, die Bürde, aber auch die Würde, die sie der Mutter genommen hatte!

Ich war hell begeistert über diese „Entdeckung” – so wie ein Naturforscher, der ein neues, ein bisher unbekanntes und seltenes Phänomen entdeckt hat. Bald sah ich, dies Phänomen der symbiotischen Verschmelzung ist keineswegs selten, sondern in der Beziehung zu einem sehr belasteten Elternteil fast die Regel.

Symbiose…

Ich war auf das Thema Symbiose gestossen und entdeckte nach und nach die verschiedenen Aspekte dieses faszinierenden Phänomens:

  • die fehlende Abgrenzung – mit der Tendenz zur Überabgrenzung,
  • die Selbst-Entfremdung – mit der Tendenz, sich mit fremden Inhalten zu identifizieren oder sich für fremd Aufgaben zuständig zu fühlen. Und
  • die Blockade der gesunden Kraft, durch ein unbewusstes Abgrenzungsverbot, mit der Tendenz, die gestaute Kraft schliessslich destruktiv gegen sich selbst – oder gegen andere – zu richten.


…und Autonomie

Als Alternative zur Symbiose wurde dann Autonomie deutlich. Die seelische Entwicklung von der Symbiose zur Autonomie, der Übergang von der “gesunden” Mutter-Kind-Symbiose zum Zustand des Erwachsenseins, der Selbst-Verantwortung im Prozess der Ablösung (Pubertät).

Kapitän” auf Mutters Boot

Wenn ein Klient mit der Mutter identifiziert ist, dann kann sich das bisweilen so anfühlen, als sei er dafür verantwortlich, dass es ihr gut geht. So als müsse er „Lotse” oder gar „Kapitän” auf Mutters „Boot” sein. Das fühlt sich zwar sehr liebevoll an, aber es hat auch etwas mit Macht und Kontrolle zu tun. Und es ist eine Illusion. Es kann nicht funktionieren, und dann fühlt man sich auch noch als Versager oder schuldig. Der Preis für diese Illusion ist hoch: der betreffende kann nicht gleichzeitig auf seinem Boot sein, und schon gar nicht als Kapitän! Die Folge: sein eigenes Boot kann in Seenot geraten – weil der Kapitän „auf dem falschen Dampfer” ist.

Wie kam das „Selbst” in die System-Aufstellung?

Wenn ein Klient für Mutter oder Vater ein verstorbenes Geschwister vertritt, oder einen Elternteil oder den real oder emotional nicht präsenten Partner, oder gar mit dem Elternteil selbst identifiziert ist, dann ist das für die Identität verwirrend. Dann der Klient natürlich nicht bei sich selber sein, nicht mit sich selbst verbunden sein. Irgendwann kam mir die Idee, einen Repräsentanten aufzustellen für das was der Klient eigentlich ist, für sein Selbst! Mein Gefühl: es gehört zu seiner „Grundausstattung”, auch wenn er es noch gar nicht kennen gelernt hat. Vielleicht ist es ja noch „original verpackt”? Und dann war ich selber überrascht von der überwältigenden Wirkung, wenn ein Klient mit diesem noch unbekannten Selbst – das er gerade noch für eine Fiktion hielt – einmal „probeverschmilzt”. Da war es klar: dies Selbst ist eigentlich unsere unverlierbare Ressource. Und sie steht uns zu Verfügung – solange wir noch atmen. Und das „Aussteigen” aus all den übernommenen Rollen, die uns vielleicht die Illusion gegeben haben so bedeutsam oder unersetzlich zu sein – obwohl wir da gar nichts bewirken konnten – dies Aussteigen wird auf einmal ganz leicht, wenn man die „lohnende Alternative” kennen gelernt hat: das eigene Selbst.

Selbst-Anteile”

Als nächstes zeigte sich, dass es mehrere Selbst-Aspekte gibt, entsprechend den Selbstanteilen, die ein Klient als Kind unterdrücken, oder abspalten musste, weil sie nicht erwünscht waren, oder auch von den Eltern bedroht wurden:

  • das „erwachsene Selbst”, das sich abgrenzen kann, das weiss, was es will und das auch sagen kann, das sich wehren und schützen kann, und
  • das „kindliche Selbst”, das klein und schwach sein darf, bedürftig nach Nähe und Zuwendung, das geschützt werden möchte vor Verletzungen und Übergriffen, das aber auch Spass haben möchte. Und bisweilen auch
  • das „Körperselbst”. Wenn ein Klient erlebt, dass er für die Eltern das „falsche Geschlecht hat”, oder wenn er sexuelle Übergriffe erlebt hat, dann lehnt er manchmal den Körper, besonders seine männlichen oder – häufiger – weiblichen Formen ab, so als seien sie die Ursache für das Leid, das er erlebt hat.

Für diese Selbstanteile lasse ich den Klienten Stellvertreter aussuchen, die er dann im Raum aufstellt. So wird sichtbar, wie nahe – oder ferne – sie ihm sind.

Identifizierung mit einem fremden Selbst

Nachdem ich Stellvertreter für das Selbst des Klienten einführte, lag es nahe, auch Stellvertreter für das Selbst des Gegenübers aufzustellen. Wenn ich zum Beispiel einem Klienten seine sehr belastete Mutter gegenüber stelle, dann fühlt er sich – ohne Grenze! – sofort sehr belastet. Wenn ich dann neben die Mutter deren erwachsenes Selbst aufstelle – „der Teil von ihr, der sich frei und stark fühlt, der seine Würde hat” – dann atmet bisweilen der Klient erleichtert auf. Bei der Überprüfung stellt sich dann heraus, dass er sich am Platz von Mutters Selbst „zuständig fühlt”. So als müsse er ihr das nahe bringen, was sie eigentlich selber sein könnte. So als müsse er alle eigenen Bedürfnisse zurückstellen um besser spüren zu können, was die Mutter braucht um frei und glücklich zu sein. Das fühlt sich – in der Tat! – sehr „selbstlos” und „edel” an, bisweilen so edel, dass man vor sich selber „andächtig auf die Kniee gehen könnte”. Aber leider ist es eine Illusion – für die der Betreffende auch noch einen hohen „Preis” zahlen muss: er muss dafür auf seinen eigenen Raum und auf die Verbindung mit seinem eigenen Selbst verzichten.

Die Grenze und der eigene Raum

Die Einsicht, dass durch die Unterscheidung zwischen Fremden und Eigenem, durch die Grenze so etwas wie ein eigener Raum entsteht, das war der – bisher – letzte Schritt.

Diese Einsicht kam im Zusammenhang mit dem Abgrenzungsritual. Ich beobachtete, wie einzelne Klienten sich eifrig von ihrem Gegenüber abgrenzten mit dem Ergebnis, dass es beiden danach nicht wirklich gut ging. Abgrenzung ist zunächst für beide Beteiligten neu, ungewohnt, gewöhnungsbedürftig, aber letztlich immer befreiend. Es dauerte daher eine Weile bis ich begriff: Manche befanden sich im fremden „Boot”, im Raum des anderen. Und wenn sie sich dort, wo sie ja gar nicht zuständig sind(!), vom anderen abgrenzen, dann kann es passieren, dass der andere – bildlich gesprochen – im kalten Wasser landet. Ein schreckliches Missverständnis!

Also wurde deutlich, wie wichtig es für den Klienten ist, wahrzunehmen, in wessen Raum er sich befindet, und dann aus diesem Raum auszusteigen – auch wenn er sich bis dahin dort zuhause und zuständig gefühlt hatte! Erst dann, im eigenen Raum, ist die Abgrenzung gegenüber dem Fremden sinnvoll und für beide hilfreich.

So kam ich zu der Einsicht: Die Verbindung mit dem Eigenen, mit dem Selbst ist nur im eigenen Raum möglich!

München 16.5.2014