Überlegungen zum 70. Geburtstag

Ich möchte euch eine bemerkenswerte Erfahrung mitteilen.

Vor 6 Monaten – es war auch ein Sonntag, die Sonne schien hell und strahlend – hatte ich auf dem Brauneck einen akuten Herzinfarkt. Ich spürte einen erträglichen Schmerz und Atemnot. Als Arzt wusste ich, so kann sich der Tod melden, mein Tod!

Aber ich hatte keine Angst!?

So als könne mich auch der Tod nicht trennen von etwas, was grösser ist als das Leben?

Ich kann es nicht genau benennen. Vielleicht spürte ich Verbindung mit meinem Selbst, mit dem, das Carl Gustav Jung den göttlichen Funken in uns nennt?

Aber ich wollte (noch) nicht sterben. Ich sagte meiner Frau Astrid Bescheid, sie besorgte mir einen Hubschrauber, er brachte mich in die Unfallklinik Murnau. Dank eines fähigen Kardiologen war der Gefässverschluss, der meine ganze Herzvorderwand lahm gelegt hatte, innerhalb von drei Stunden wieder geöffnet. Ich spürte, wie der Schmerz und die Atemnot nachliess. Mein Tod hatte mich ins Leben zurück geschickt!

Ich fühlte eine unglaubliche Befreiung, ein Glück, geradezu einen Übermut, wie noch selten in meinem Leben.

So als würde mir bewusst: ich lebe. ICH ……LEBE……..

– Das ist übrigens bei den Zulus die Begrüssungsformel!-

Der Herzmuskel erholte sich innerhalb von sechs Wochen vollständig. Das Gefühl einer Befreiung hielt an.

Mein Tod hatte mir „ein Licht aufgesetzt“!

DER SCHATTEN DES FREMDEN TODES?

Ich glaube, es ist ein schreckliches Mißverständnis, wenn wir dem Tod eine Aura des Schmerzes und der Trauer geben.

Gewiss ist Sterben bisweilen mit Schmerzen verbunden. Und eine lange Pflegebedürftigkeit kann für den Betroffenen und für die Angehörigen sehr belastend sein.

Und für die Angehörigen, die ein Elternteil, ein Geschwister, ein Kind verlieren, ist der Abschied immer schmerzlich. Das macht Abschied nehmen so schwer – wer liebt schon den Schmerz?!

Umso mehr, wenn man glaubt, dass dem geliebten Angehörigen durch den Tod etwas Schreckliches geschieht. Diese Vorstellung macht es uns noch schwerer, uns von dem Gegangenen zu verabschieden, und uns wieder dem Leben zuzuwenden!

So verstärkt sich das Mißverständnis immer mehr.

Ein Mitleid mit dem Verstorbenen vermischt sich mit unserem Mitleid mit uns selbst, sodass wir gar nicht so selten die Verstorbenen nicht loslassen können, sodass auch sie ihren Frieden nicht finden können.

Dies völlig unangemessene Mitleid und die fehlende Unterscheidung von Eigenem und Fremden ist die Ursache großer Verwirrung.

Beides wird oft für Liebe und Achtung gehalten, aber das Gegenteil ist der Fall!

Dies schreckliche Mißverständnis führt dazu, dass beide verlieren, der Verstorbene und seine Angehörigen! Eine typische lose-lose-Situation.

Wenn Kinder den Namen eines gerade Verstorbenen bekommen…

Nicht selten geben Eltern einem Kind den Namen eines geliebten Verstorbenen und halten so die Erinnerung an ihn – und an ihren Schmerz lebendig.

Und auf das betroffene Kind, das durch die Geburt die Chance auf ein eigenes „Selbst“, eine eigene Identität, ein eigenes Leben hat – und einen eigenen Tod! – fällt der Schatten eines fremden Lebens, eines fremden Todes. Fremdes überlagert das Eigene, vermischt sich mit ihm. Das hindert den Betroffenen bisweilen, seine eigene Lebendigkeit zu leben. Das kann sein ganzes Leben bestimmen!

Als meine Mutter mit mir schwanger war, stürzte ihr geliebter Bruder Robert mit dem Flugzeug ab. Und sie gab mir seinen Namen!

Ihre Mutter, meine Großmutter Milla, hatte ihr den Namen ihrer eigenen Mutter FRIEDERIKE gegeben, meiner Urgroßmutter, die gerade vor fünf Jahren verstorbenen war!

Aber meine Mutter hatte einen anderen Rufnamen: MAILI!?

Damals fiel der Schatten eines fremden Schicksals, fremden Leides und fremder Trauer auf mich und hat mich bis vor einem halben Jahr begleitet.

Als Kinder hat Mutter – eine „starke“ Frau – mit uns am Klavier Lieder aus einem alten bebilderten Buch gesungen. Auch das Lied „Ich hatt’ einen Kameraden, einen besseren findst du nit.. eine Kugel kam geflogen, gilt sie mir oder gilt sie dir?….ihn hat sie weggerissen, er lag zu meinen Füssen, als wär’s ein Stück von mir..”

Dies Lied hat eine überwältigende Trauer bei uns Kindern ausgelöst, sodass wir Mutter baten, die Seiten im Liederbuch zusammen zu kleben!

War es Mutter’s verborgene Trauer, die wir spürten?
Jedoch: kein Selbstmitleid! Alles hat seine zwei Seiten:

Vielleicht hat mir das ja einen besonderen Zugang zum „Reich der Verstorbenen“ eröffnet, der für meine Arbeit als Familientherapeut sehr hilfreich war und bleibt?!

Offensichtlich hat die Erfahrung der Nähe meines eigenen Todes mich von diesem Schatten befreit.

Ich habe mich deshalb entschlossen – nach 70 Jahren! – an Stelle des Namens ROBERT den Namen zu verwenden, mit dem meine Eltern mich als Kind gerufen haben: ERO. Es ist die Abkürzung der beiden Vornamen Ernst Robert. Ob die Ähnlichkeit mit EROS, dem griechischen Gott der Liebe, von meinen Eltern beabsichtigt war, weiss ich nicht. Für mich ist sie nicht unerwünscht!

Und DU, mein Onkel Robert, dem ich nie begegnet bin, darfst nun auch, nach 70 Jahren deinen Frieden finden! Ich spüre geradezu, wie erleichtert du bist, dass du dich endlich zurückziehen kannst, und mir aufmunternd zuzwinkerst!

Das ist nun eine Situation, bei der beide gewinnen!

Ich persönlich mag solche win-win-Situationen! 😉

(ERO Langlotz, 3.4.2011)