SCHAMANISMUS

Schamanismus polarisiert: auf manche wirkt er anziehend, sie erwarten Zauberei und Wunderheilungen. Für andere ist er Teufelszeug oder unwissenschaftlich.

Ich beziehe seit 10 Jahren schamanische Elemente in meine therapeutische Arbeit ein. Das möchte ich im Folgenden genauer erläutern.

Schamanen gibt es seit der Steinzeit in allen Kulturen, auf allen Kontinenten. In Europa, unter dem Einfluss der Kirche, ist die schamanische Tradition abgebrochen. Die Schamanen spürten, wenn sie zu dieser Aufgabe bestimmt waren. Oft mussten sie schwere Krankheiten durchstehen und machten so die Erfahrung von Todesnähe. Seit Tausenden von Jahren gaben sie Wissen und Rituale an die nächste Generation weiter.

Der amerikanische Anthropologe Michael Harner studierte die verschiedenen Traditionen – und entdeckte dabei, dass er selbst schamanische Fähigkeiten besass. Er begründete die foundation of shamanic studies und beschrieb das, was allen Traditionen gemeinsam war, als „Core-Schamanismus“. (1)

Problematisch am alten – und auch an manchem „neuen“ – Schamanismus sind „schwarz“-magische und zauberische Praktiken, die manipulativen Charakter haben, und deshalb nicht zu Freiheit und Autonomie, sondern zu Macht und Abhängigkeit führen.

Wenn man jedoch genau hinschaut und unterscheidet, wird deutlich, wie hilfreich die „ganzheitliche“, nicht-abwertende Grundhaltung des Schamanismus sein kann, gerade auch im Unterschied zu den „defizitär“ orientierten Konzepten unserer abendländischen Tradition Der Schamanismus kennt keine „Erbsünde“ oder „Verderbtheit“ der menschlichen Natur – des Körpers, der Sexualität, der Aggression – er kennt auch keine angeborenen, genetisch determinierten Veranlagungen für psychische Erkrankungen. Im Gegenteil, nach schamanischem Verständnis hat jeder Mensch die Möglichkeit, vollständig, ganz, und das heisst „heil“ zu sein.

Es gibt auch keine „negative“ Energien, nur Energien „am falschen Platz“.

Diese Sichtweise entspricht dem systemischen Verständnis, aber auch der Haltung der sogenannten „humanistischen“ Psychotherapieformen, sie ist mit diesen „kompatibel“. Daher können schamanische Elemente – bei sorgsamer Handhabung – unbedenklich mit Elementen der humanistischen und der systemischen Psychotherapie kombiniert werden.

„Besetzungen“ durch „unerlöste Seelen“

Wichtig gerade für die familiensystemische Arbeit: die Schamanen haben sich intensiv mit Sterben und Tod beschäftigt, sie kannten Phänomene wie „Anhaftung“ oder „Besetzungen“ , Situationen, in denen Lebende auf eine Art mit Verstorbenen verbunden sind, die sie daran hindert, sich selber ganz dem Leben zuzuwenden. Und sie haben Lösungsrituale entwickelt.

Die brasilianischen Schamanen z.B. haben ein sehr bemerkenswertes Verständnis von „Besetzung“.

Sogenannte „verwirrte“ oder „unerlöste Seelen“ von plötzlich oder gewaltsam Gestorbenen „wissen“ nicht, dass sie gestorben sind, können sich deshalb aus der „irdischen Sphäre“ nicht lösen und suchen sich einen Lebenden, den sie „besetzen“. Bisweilen geschieht das aus ihrer eigenen Verwirrung heraus, bisweilen auch, weil sie sich an einem Täter – oder einem seiner Nachkommen – rächen (!?) wollen.

Psychische Störungen einschliesslich Psychosen sollen nach brasilianischem Verständnis durch derartige „Besetzungen“ verursacht sein.

Als Psychiater hat mich diese Hypothese verständlicherweise sehr fasziniert. Das war ein Grund, warum ich mich mit dem Schamanismus, speziell dem brasilianischen, und dessen sehr differenzierten Lösungsritualen beschäftigte.

Dabei geht es darum, dass sich ein „Medium“ als „Sprachrohr“ für die „besetzende Seele“ zur Verfügung stellt. Der Schamane versucht dann, wie ein Lehrer oder „Indoktrinator“ in einem Dialog der „besetzenden Seele“ bewusst zu machen, dass sie eigentlich schon gestorben ist, dass sie gar nicht zu der besetzten Person gehört. Er versucht, sie davon zu überzeugen, dass es für sie selber – aber auch für die besetzte Person – besser sei, wenn sie „an ihren guten Platz“ geht, dahin, wo sie endlich ihren Frieden finden kann, ins Licht oder zu Gott.

Ich habe solche „Besetzungslösungen“ mit psychisch Kranken erlebt, es waren immer sehr berührende, bisweilen auch dramatische Sitzungen.

Aber langfristig ging es den Klienten danach nicht besser.

Und mir selber sind in meiner eigenen Arbeit derartige „Besetzungen“ durch „unerlöste Seelen“ nicht begegnet.

„Besetzungen“ durch lebende – und verstorbene – Angehörige

Aber diese Erfahrungen machten es mir möglich, im Zusammenhang mit dem Symbiosethema das Phänomen von Identifizierung z.B. mit den Eltern – oder mit früh verstorbenen Bezugspersonen oder sehr belasteten Vorfahren – auf eine neue Art wahrzunehmen. Es wurde mir deutlich, dass diese Art von Identifizierung als „Besetzung“ verstanden werden kann – und dass sie sehr häufig ist.

Dabei zeigte es sich in den meisten Fällen, dass die Klienten nicht nur „Opfer“ waren – wie es das schamanische Verständnis von „Besetzung“ nahelegen könnte und wie es viele Klienten so erleben! – sondern dass sie bei dieser Dynamik selber aktiv beteiligt waren – wenn auch unbewusst.

Wenn es dem Klienten bewusst wird, dass er selber es ist, der den Anderen „festhält“, kann er sich entscheiden, aus dieser „Besetzung“ auszusteigen.

Wenn es sich um Identifizierungen mit Verstorbenen handelt, sind bestimmte Elemente aus der brasilianischen „Besetzungslösung“ hilfreich. Auch in unserer eigenen Tradition – z.B. in dem Märchen der Brüder Grimm „das Totenhemdchen“ finden wir die Vorstellung, dass Angehörige einen Verstorbenen bisweilen „festhalten“ – durch übermässige Trauer, aber auch durch Schuldgefühle oder Vorwürfe – sodass sie selber keinen Frieden finden – und der Verstorbene vielleicht auch nicht. In den Lösungsprozessen der „systemischen Selbst-Integration“ zeigt sich jedesmal, dass die entsprechenden Klärungs-Dialoge und Abschieds-Rituale eine sehr tiefe und nachhaltige Wirkung haben.

Das schamanische Verständnis von Krankheit und Heilung

ist überzeugend in seiner Klarheit und Schlichtheit.

Krankheit wird verstanden als Vermischung mit Fremden und /oder Verlust von Eigenem.

Heilung bedeutet demnach, sich von Fremden trennen und das verlorene Eigene wieder zu integrieren.

Wesentlich ist die Unterscheidung von Eigenem und Fremden, sie beinhaltet bereits so etwas wie eine Grenze.

Der Schamane heilt, indem er z.B. aufgenommenes Fremdes „extrahiert“.

Schamanen wissen, dass Menschen bei Verlust eines Angehörigen oder bei Erfahrung von Gewalt „Seelenanteile“ verlieren können. Sie können für ihre Klienten diese „verlorene Seelenanteile“ suchen und sie ihnen wieder zurück geben, indem sie ihnen diese symbolisch in die Gegend des Herz- oder Scheitelchakras zurückhauchen.(2)

Rituale

sind ein wesentliches Element des Schamanismus: symbolische Handlungen die den jeweiligen Heilungsprozess bildhaft ausdrücken, sozusagen „verkörpern“. Anders als verbale Interventionen alleine, wirken sie unmittelbar über den Körper auf das Unbewusste ein.

Das erklärt ihre tiefe und nachhaltige Wirkung.

SCHAMANISCHE ELEMENTE UND DER LÖSUNGSPROZESS DER „SYSTEMISCHEN SELBST-INTEGRATION“

Auf meiner Suche nach wirksamen Lösungsstrategien beschäftigte ich mich intensiv mit dem Schamanismus und lernte seine Möglichkeiten, aber auch seine Grenzen kennen.

Ich verstehe mich nicht als Schamane. Meiner Ansicht nach ist es auch nicht erforderlich, als Schamane „initiiert“ zu sein, um therapeutisch mit schamanischen Ritualen zu arbeiten. Schamanisches Wissen gehört zum „Weltkulturerbe“ der Menschheit. Wer es achtet, darf damit arbeiten.

Zu dieser Achtung gehört dazu, dass ich hier die schamanischen Elemente und ihre Bedeutung für die sytemische Selbst-Integration darstelle und würdige.

Die schamanischen Vorstellungen von Anhaftung und Besetzung zwischen Lebenden und Verstorbenen haben es mir ermöglicht, die Phänomene des Symbiosmusters auf eine neue Weise zu verstehen. Die Vorgehensweise der „systemischen Selbstintegration“ entspricht präzise dem schamanische Verständnis von Heilung: Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden, Trennung von übernommenen Fremden und Integration des verlorenen Eigenen.

Für die Klärung der Beziehung zu einem Angehörigen im Rahmen der „systemischen Selbst-Integration“ ergeben sich daraus folgende Lösungsschritte.

Aufstellungsbild

Der Klient stellt einen Repräsentanten für die Person auf, zu der er seine Beziehung klären möchte, z.B. für die Mutter. Dann stellt er Repräsentanten auf für eventuell unterdrückte eigene Selbst-Anteile: sein „starkes Selbst“ und sein „kindliches Selbst“.

Nicht selten steht er zu nahe – oder „überabgegrenzt“ viel zu entfernt – zu seiner Mutter. Seine Selbstanteile sind meist weit entfernt, abgewandt oder sogar unsichtbar wie hinter einem Paravent.

Prüfen der Grenzen

Als erstes geht es darum, mit dem Klienten zusammen ein Phänomen zu überprüfen, das ihm selbst zunächst unbewusst ist:

Kann er sich selber spüren, seine Fußsohlen, seine Atmung, auch wenn er dem Gegenüber – z.B. einer Stellvertreterin seiner Mutter – näher kommt?

Am besten kann er das am Anfang überprüfen, noch bevor er die „Mutter“ aufstellt und dann spüren, was sich verändert, wenn die Mutter an ihren Platz kommt.

Wenn er sich dann selber nicht mehr oder anders spürt als vorher, kann das bereits ein Hinweis darauf sein, dass er keine „innere Grenze“ zur Mutter hat, dass er unbewusst sofort einen „gemeinsamen seelischen Raum“ zur Mutter aufbaut, der es ihm unmöglich macht, zwischen dem Eigenen und dem Nicht-Eigenen zu unterscheiden, sodass er Fremdes mit Eigenem „verwechselt“.

„Vertraut am falschen Platz“

Als nächstes überprüft der Klient, ob er für sein Gegenüber – z.B. die Mutter- unbewusst deren früh verlorene oder fehlende Angehörigen „vertreten“ wollte, ob ihm der Platz z.B. von Mutters früh verstorbenem Vater, oder ihres im Krieg gefallenen Lieblingsbruders „vertraut“ ist. Nicht selten ist das der Fall, dann erfordert die Klärung der eigenen Position, dass der Klient zur „Mutter“ (Stellvertreterin) sagt: „ich kann dir nicht deinen Vater…..deinen Bruder ersetzen.“

Als nächstes überprüft er, ob ihm vielleicht auch Mutters Platz – Mutters „Boot“ – vertraut ist, vertrauter vielleicht als sein „eigenes Boot“? Vielleicht glaubt er gar, auf Mutters Boot „Lotse“ oder gar „Kapitän“ sein zu müssen??

Das könnte der Grund dafür sein, dass sein eigenes Lebensboot immer wieder „in Seenot“ gerät, weil der „Kapitän“ -er selbst – nicht an Bord ist, sich „auf dem falschen Dampfer“ befindet.

Diese Phänomene können als Hinweis auf die fehlende „innere Grenze“ verstanden werden, als Ausdruck einer bisher unbewussten Vermischung mit Fremden – und Trennung vom Eigenen.

Erst jetzt, da ihm das bewusst wird, kann sich der Klient für eine Unterscheidung, für eine Grenze, für einen eigenen inneren Raum entscheiden.

Der Leiter legt als Symbol für die Grenze einen Schal auf den Boden, zwischen seinem eigenen und dem fremden Platz. Der Klient verlässt den „falschen Platz“ und stellt sich auf seinen eigenen Platz. Er prüft, ob er die klärenden Sätze aussprechen kann:

„Du bist Du und ich bin ich. Du hast dein Schicksal, ich habe meines. Du lebst dein Leben und ich lebe meines.“

Das fühlt sich für manche schmerzlich an – so als seien sie selbst -oder der andere! – plötzlich alleine. Oder es fühlt sich verboten an, so als sei es lieblos, egoistisch, selbst-süchtig!

So schwer dieser Schritt für manche auch ist, es ist erst der Anfang.

Zurückgeben des übernommenen Fremden

Klienten mit der Tendenz, symbiotisch mit dem Gegenüber verbunden zu sein, „kennen“ dessen Probleme, seine Sorgen, Gefühle und Wünsche und neigen dazu, sich damit zu identifizieren, „sie zu ihren eigenen zu machen“, so als wäre es ihre eigentliche Aufgabe, fremde Probleme und Gefühle zu übernehmen und fremde Wünsche zu erfüllen.

Das lässt sich einfach überprüfen durch das „Rückgabe-Ritual mit dem Stein“.
Streng genommen gehört es nicht zu den schamanischen Ritualen, ich habe es schon früher verwendet, aber es „passt“ sehr gut dazu!

Der Klient bekommt einen schweren Kieselstein in beide Hände – als Symbol für die Probleme und Sorgen z.B. seine Mutter – und prüft, ob er zur „Mutter“ (Repräsentantin) sagen kann: Mutter, das sind deine Probleme, vielleicht habe ich sie bisher getragen, als wären es meine eigenen. Jetzt sehe ich, dass du sie zu dir gehören. Ab heute lasse ich sie bei dir.

Bemerkenswert: gerade Klienten, die sich vorher bitter darüber beklagt haben, was ihnen die Mutter alles „aufgebürdet hat“, können bisweilen der Mutter diesen Stein nicht zurück geben! So als wäre das lieblos, egoistisch, verboten.

Manche wollen den Stein sofort los werden und ihn der „Mutter“ vor die Füsse „knallen“. Bisweilen will die Mutter den Stein nicht nehmen.

Man könnte denken, der Stein gehöre nicht zur Mutter, oder sie sei zu geschwächt müsse erst gestärkt werden.

Die Lösung ist anders, einfach:

Der Klient hat keine Achtung für seine Mutter und deshalb kann/will die Repräsentantin seiner Mutter diesen Stein nicht zurücknehmen!

Dies ist zunächst eine Hypothese, die überprüft werden muss!

Der Leiter schlägt dem Klienten folgenden Testsatz vor: Mutter, das ist dein Leid, dein Schmerz. Es ist dir viel zu schwer. Ich kann es leicht tragen. Du kannst froh sein, dass du mich hast!“

Und – nicht selten – huscht ein verräterisches Lächeln über sein Gesicht!

Der Leiter: „Das ist das heimlich Glück hinter dem Leid! Diese Illusion, für die Mutter wichtig, unentbehrlich zu sein, hält dich am falschen Platz!“

Der Klient hatte anscheinend das Gefühl, für seine Mutter nur dann wichtig zu sein, wenn er gross und stark ist. Das hinderte ihn daran, sich ihr als Kind zu zeigen, mit seinen kindlichen Gefühlen und Problemen – vielleicht fühlte sie sich ja auch von ihm als Kind überfordert? Das hat ihn seinem kindlichen Selbst entfremdet!

Für die Lösung kann es jetzt hilfreich sein, wenn der Klient der Mutter – und sich selbst – symbolisch bewusst macht, dass eigentlich sie „die Grosse“ und er „der Kleine“ ist, indem er auf die Knie geht.

Der Leiter: Vielleicht hast du geglaubt, es würde besser, wenn du der Mutter ihr Schweres abnimmt, aber ist es denn wirklich besser geworden? Oder nicht sogar schlechter? Hast du vielleicht die Achtung für die Mutter verloren – und für dich selber?

Und hat die Mutter nicht ihr Schicksal getragen, auf ihre Art, die vielleicht anders ist als deine? Es war ihre Art, zu überleben – und dem verdankst du letztendlich auch dein Leben. Vielleicht hast du darüber geurteilt – aber steht dir das überhaupt zu?

Meist geht jetzt im Klienten eine Veränderung vor sich: er wird nachdenklich, traurig und ist bereit, der Mutter ihr Schicksal zu lassen, auf eine andere Art als vorher, mit Achtung: Mutter, es ist deines, du hast es auf deine Art getragen und ich achte das, indem ich es ab heute ganz bei dir lasse!

Auch bei der „Mutter“ hat sich jetzt etwas verändert, sie ist berührt, kann den Stein selbstverständlich nehmen mit den Worten: „Das ist natürlich meins und eigentlich wollte ich nicht, dass du das trägst. Ich sehe, dass ich dir mit meinem Schicksal viel zugemutet habe, dass ich vielleicht nicht immer wie eine Mutter für dich sein konnte Schade. Aber das hat überhaupt nichts mit dir zu tun!“

Durch diese Lösungsschritte hat sich die Beziehung des Klienten zu seiner Mutter bereits spürbar gewandelt. Auch die Repräsentanten der Selbstanteile spüren das, sie drehen sich um, oder schauen hinter dem Paravent hervor, so als spürten sie jetzt eine Chance, mehr Verbindung mit dem Klienten zu bekommen, und als hätten sie nur darauf gewartet.

Zurücknehmen des verlorenen Eigenen

Es ist offensichtlich geworden: der Klient hat seiner Mutter seinen „inneren Raum“ zur Verfügung gestellt, er war mit seiner Aufmerksamkeit mehr bei ihr – als z.B. bei sich selber, er hat ihr, mit anderen Worten, seine Energie zur Verfügung gestellt.

Sie kann aber mit seiner Energie nicht viel anfangen, sie hat ihre eigene Energie. Der einzige, der diese Energie wirklich braucht, ist er selber.

In dieser Umschreibung klingt die psychoanalytische Vorstellung von Libidoenergie an. Aber es ergibt sich auch eine Verbindung zum schamanischen Verständnis von „verlorenen Seelenanteilen“(siehe weiter oben S. 3 oben)

Als symbolischen Ausdruck für die Wiederverbindung mit der „eigenen Energie“ ist das schamanische Ritual des „Zurückhauchens der verlorenen Seelenanteile“ sehr wirksam. Erstaunlich: den Klienten scheint es sehr stimmig, sie spüren meist genau, an welchen Stellen sie ihre Energie wieder brauchen: im Herzbereich, am Rücken, am Kopf, am Kreuzbein. Bisweilen lösen sich jahrelange Schmerzen und Verspannungen innerhalb weniger Minuten!

Meist ist es für die Klienten stimmig, dass die „Mutter“ (die Repräsentantin) ihnen die Energie in dieser Form zurück gibt. Bei Erfahrungen von Übergriffen und Gewalt „trauen“ die Klienten der Mutter nicht – verständlicherweise- und wollen die Energie lieber von einem Repräsentanten für „Mutters Selbst“ – das nicht verwirrt ist – oder direkt von ihrem eigenen „starken Selbst“, welches eine unverdächtige und zuverlässige Quelle für ihre eigene Energie ist.

Das ist für den Klienten auch Anlass, sich wieder mehr seine eigenen Anteilen zuzuwenden.

 

Verbindung mit den unterdrückten (abgespaltenen) Selbstanteilen

Nachdem durch die bisherigen Lösungsschritte die Grenze und damit die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden eingeführt wurde und der Klient wieder insofern „Ordnung geschafft hat“, dass er übernommenes Fremdes abgeben und verlorenes Eigenes zurücknehmen konnte, kann er jetzt die Beziehung zu seinen unterdrückten oder auch abgespaltenen Selbstanteilen überprüfen.

Zum „starken“ oder „erwachsenen“ Selbstanteil, der sich „frei und unbeschwert fühlen darf“, dem „es gut gehen darf, auch wenn es anderen nicht gut geht“; kann er meist leichter wieder Verbindung aufnehmen. Den Eltern gegenüber musste er vielleicht diesen Teil verstecken, um mit ihnen keinen „Stress“ zu bekommen, aber heimlich hatte er meist Verbindung mit diesem Teil.

Schwieriger ist bisweilen die Annäherung an das „kindliche Selbst“, das missachtet, gedemütigt, verletzt wurde, das keiner geschützt hatte. Nicht selten ist der Klient diesem kindlichen Selbst „böse“, weil es vielleicht Hassgefühle und Mordimpulse gegenüber den Eltern hatte – die natürlich „verboten“ sind. Oder weil er es – in Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse – für das erlebte Leid und die Verletzungen verantwortlich macht. Klienten, die seelische oder körperliche Gewalt erfahren haben, neigen daher dazu, eher sich selber als den Täter zu hassen.

Diese „Abspaltung“ des zentralen kindlichen Selbstanteils ist die gravierendste Traumafolge, weil sie unbewusst und weil sie bleibend ist – solange sie nicht durch eine Traumatherapie bewusst gemacht und gelöst wird.

Der Leiter begleitet behutsam den Klienten bei seiner Annäherung an seine unterdrückten Selbst-Anteile, ohne den Klienten zu drängen. Die Repräsentanten der Selbstanteile spüren genau, ob sie schon bereit zu einer Verbindung sind oder ob noch etwas fehlt.

Gelingt es dem Klienten, sich mit beiden Selbstanteilen zu verbinden, gleichzeitig sein „starkes“ und sein „kindliches Selbst“ zu spüren, dann tritt eine Veränderung ein. Der Klient fühlt sich ruhig, friedlich, „bei sich selber angekommen“, „vollständig“. Manche berichten von einem bisher unbekannten angenehmen Gefühl, geerdet zu sein.

Bisweilen kann eine Verbindung mit den Selbstanteilen erst nach dem Abgrenzungsritual gelingen, nachdem der eigene innere Raum errichtet ist!

Schützen der eigenen Grenzen

Um die Verbindung mit den eigenen Selbstanteilen aufrecht zu erhalten – oder überhaupt erst herstellen zu können – benötigt der Klient den „eigenen seelischen Raum“, der es ihm erlaubt, ganz er selbst zu sein unabhängig davon , was andere von ihm denken oder erwarten. Er braucht seine Grenze und nur er selbst kann diese Grenze definieren und schützen!

Im „Abgrenzungsritual“ kann der Klient selber überprüfen, ob es ihm gelingt, seine „Grenze“ – symbolisiert durch einen Schal – gegenüber der Bezugsperson zu „schützen“. Manche stellen sich zwei Meter hinter die „Grenze“, lassen den anderen bis an die Grenze – oder sogar darüber hinaus – gehen, oder glauben, durch ein zaghaftes Hochheben der Hand und ein „stop“ ihre Grenze schützen zu können.

Erforderlich ist jedoch der volle körperliche Einsatz – natürlich ohne den anderen zu verletzen! Und die meisten spüren da ein „Verbot“, als wäre das verletzend, lieblos, egoistisch.

Dies unbewusste verinnerlichte Abgrenzungsverbot scheint der Kern des ganzen Symbiosethemas zu sein, um den herum sich die anderen Symbioseaspekte entwickeln. Der gesunde Impuls, sich zu schützen und zu wehren, ist quasi eingefroren. Das ist die Blockade der gesunden Aggression! Und die gestaute, unterdrückte Aggression wird destruktiv, richtet sich gegen sich selbst oder unkontrolliert gegen andere.

Hier ist es Aufgabe des Leiters, dem Klienten diese Zusammenhänge bewusst zu machen, so dass er selber sich entscheiden kann, seine Grenze mit Nachdruck zu schützen. Die Repräsentanten der abgespaltenen Selbstanteile haben dabei eine wichtige klärende und unterstützende Funktion.

Gelingt dem Klienten eine kraftvolle Abgrenzung, dann verändert er sich, wie mit einem Schlag: sein resignativer oder mürrischer Gesichtsausdruck hellt sich auf, das Gesicht, die Augen strahlen. Die Haltung, zuvor gebeugt, richtet sich auf, jahrelange Verspannungen können sich lösen.

Es ist so, als würde die Richtung seiner Kraft wie mit einem Hebel verändert: statt destruktiv gegen sich selbst nun konstruktiv nach aussen!

Nachdem der Klient im Abgrenzungsritual seinen eigenen seelischen Raum etabliert hat, verbindet er sich noch einmal – oder zum ersten mal – mit seinen beiden Selbstanteilen und spürt meist eine nochmalige Veränderung.

In dieser Art vollständig geworden, kann er sich der Bezugsperson – z.B. der „Mutter“ – zeigen. Erstaunlicherweise ist diese meist gar nicht böse, sondern im Gegenteil sehr erleichtert und erfreut!

Im Tiefsten wünscht sich jede Mutter, dass ihr Kind zu sich selber, zu seiner eigenen Kraft kommt, auch wenn sie es – unbewusst – oft daran hindert. Das ist die „normale“ symbiotische Verwirrung der Eltern, gerade dann, wenn sie selber diesen Schritt auch nicht gehen konnten.

Nach diesem Lösungsprozess schlägt der Leiter dem Klienten vor, sich von der Mutter ab, und sich seiner Zukunft zu zu wenden, verbunde mit seinen Selbstanteilen symbolisch einige Schritte nach vorne zugehen, hinein „in einen neuen Lebensabschnitt“.

Der letzte, entscheidende Schritt des Lösungsprozesses, das Abgrenzungsritual, gehört streng genommen nicht mehr zu den traditionellen schamanischen Ritualen, aber er passt gut dazu.

ZUSAMMENFASSUNG

Diese Darstellung macht deutlich, wie effektiv das schamanische Verständnis von Krankheit und Heilung für ein modernes Therapieverfahren umgesetzt werden kann:

Krankheit wird verstanden als Vermischung mit Fremden und /oder Verlust von Eigenem.

Heilung bedeutet demnach, sich von Fremden trennen und das verlorene Eigene wieder zu integrieren.

Für mich ist es sehr eindrücklich, wie sich in der „systemischen Selbst-Integration“ systemisches Verständnis und Lösungsrituale einerseits und schamanisches Wissen und Rituale andererseits in einer Weise ergänzen und verstärken, dass etwas Neues entsteht.

Dies Neue hat eine eigene „Gestalt“, es ist mehr als „die Summe seiner Teile“.

München, 01.09.2010

 

Literatur zum Schamanismus

(1) Michael Harner, der Weg des Schamanen, Ariston

(2) Sandra Ingermann, Auf der Suche nach der verlorenen Seele, Heyne