LEBEN
EINZELN UND FREI
WIE EIN BAUM
UND BRÜDERLICH
WIE EIN WALD
DAS
IST UNSERE SEHNSUCHT

NAZIM HIKMET


Das Bipolaritäts-Modell

Stavros Mentzos hat in seinem Bipolaritätsmodell diese zwei menschlichen Grundbedürfnisse benannt: das nach Nähe und Bindung einerseits und das nach Autonomie und Freiheit andrerseits.
Für Menschen mit psychischen Problemen scheinen diese beiden Bedürfnisse miteinander unvereinbar. Ganz besonders gilt das für Klienten mit ernsteren psychischen Erkrankungen wie Depression, Borderline, Sucht, Psychose. Mentzos bezeichnet das als “Dilemma”. Er versteht die “Symptome” der Betroffenen als kreative Kompensationsversuche und nicht als “Defizit”. Als Ursache für dies Dilemma vermutet er neben biografischen Faktoren auch biologische, genetische Faktoren.

Ein erweitertes Verständnis von Symbiose

In so genannten “Systemaufstellungen” ist es möglich, durch die Verwendung von Repräsentanten für Bezugspersonen, aber auch für besimmte Persönlichkeits-Anteile, unbewusste Beziehungs-Dynamiken sichtbar zu machen, zu erforschen und neue Lösungs-Strategien zu entwickeln.
Durch die Einbeziehung eines Repräsentanten für das “Selbst” gelingt es, das komplexe Phänomen der Symbiose genauer zu erforschen.
Als „Selbst“ bezeichne ich nicht gelebte, abgespaltene zentrale Anteile einer Person: eine eigene Wahrnehmung, Impulse von Neugier, Aggression, Kreativität, Lebendigkeit.
Wenn Klienten in einer Familienaufstellung ihr „Selbst“ aufstellen, wird deutlich: je größer ihre symbiotischen Verschmelzungstendenzen sind, desto weiter entfernt stellen sie ihr “Selbst”!

Die beiden Prozesse: Anpassung und Verschmelzung z.B. mit der Mutter und die Entfernung vom eigenen Selbst bedingen und verstärken sich gegenseitig im Sinne eines Teufelskreises – daher sind sie so schwer zu lösen?

Symbiose als Überlebenstrategie

Ich verstehe diese Abspaltung von Selbst-Anteilen als Überlebens- und Anpassungsstrategie des Kindes an eine Mutter, die ihrerseits von ihrem eigenen Selbst entfernt ist – auf Grund traumatischer Erlebnisse – und die vom Kind erwartet, dass es ihr das ersetzt, was ihr fehlt: die verlorenen Angehörigen – Identifikationen – ja ihre eigene Lebendigkeit, so als könnte das Kind ihr das fehlende “Selbst” ersetzen!
Ausserdem fühlt sich die Mutter oft bedroht durch die vitalen Impulse ihres Kindes, die sie selbst bei sich zu unterdrücken gelernt hat, und manipuliert das Kind – durch Entzug der Zuwendung – ebenfalls diese Selbst-Anteile zu unterdrücken.
Kinder aber spüren genau, was Eltern von ihnen erwarten, was Eltern in ihnen sehen – und identifizieren sich damit – „falsches Selbst“ (Winnicott).

Verlust der Grenze

Das Kind stellt seinen eigenen inneren Raum für Mutters Gedanken, Gefühle, Wünsche, Erwartungen zur Verfügung – als wären es seine eigenen bzw. als hätte es kein Recht auf einen eigenen Raum.
Die eigenen Gedanken, Gefühle und Wünsche, die nicht mit denen der Mutter vereinbar sind, werden abgespalten. Da sie den brüchigen symbiotischen Kontakt zur Mutter gefährden könnten, werden sie vom Kind als gefährlich erlebt.
Die Grenze zur Mutter geh verloren.

Symbiotische Verwirrung und das Bipolaritäts-Dilemma

So entsteht die symbiotische Verwirrung: Der Klient “verschmilzt” mit der Mutter – anstatt mit seinen Selbst-Anteilen. Und er grenzt sich von seinen eigenen Selbst-Anteilen ab, als wären sie gefährlich, anstatt sich gegenüber der Mutter abzugrenzen.
Mit der Grenze geht aber auch der geschützte innere Raum verloren, der Voraussetzung ist für die Entfaltung des “Selbst”.
Der Klient “lernt”: Nähe zur Muter kan ich nur haben, wenn ich mein “Selbst” verleugne, bzw. mit meinem “Selbst” kann ich nur dann verbunden sein, wenn ich auf die Nähe zur Muter verzichte.

Dies ist genau das Dilemma der Bipolarität, und die symbiotische Verwirrung kann das hinreichend erklären.
Eine zusätzliche biologische, genetische Ursache ist nicht erforderlich. Und ein weiteres Argument für genetische Faktoren, die familiäre Häufung, erklärt sich zwanglos dadurch, dass es sich um ein Generationen übergreifendes Muster handelt, um eine familiäre oder kollektive Symbiose, die naturgemäß familiär gehäuft auftritt!

Symbiose-Falle

Da der Klient nicht gelernt hat, den inneren Raum für sein Selbst frei zu machen, fehlt ihm der Zugang zu den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, fehlt ihm die entscheidende Voraussetzung für eine autonome Orientierung. Das verstärkt wie in einem Teufelskreis seine Tendenz zur Anpassung, zur Fremdorientierung. Er kann nicht selbst- sondern nur fremdbestimmt leben, paßt sich an das jeweilige Gegenüber an, verschmilzt symbiotisch mit ihm. Symbiose wird zur Falle.

Destruktion

Einen entscheidenden Selbst-Aspekt: seine Wut, seine Aggression kann er nicht dem Gegenüber zeigen – da er mehr beim Gegenüber ist als bei sich, ist es für ihn belastender, das Gegenüber zu verletzen, als selbst verletzt zu werden.
Das “normale” Aggressions-Potential wird jedoch noch vergrössert durch die Wut über die verlorene Autonomie. Die Betroffenen sitzen auf einem Pulverfass!
In der Symbiose kann sich das naturgegebene Aggressionspotential nicht auf konstruktive Weise, in der Abgrenzung entfalten, es staut sich, bricht unkontrolliert aus oder richtet sich destruktiv nach innen, gegen das eigene Selbst: Depression, Selbstverletzung, Krankheit.

Abgrenzungs-Ritual

Die Lösung erfordert nach meiner Sicht, dass der Klient in einem Abgrenzungsritual die “besetzende” Mutter – bzw. die anderen „Introjekte“, buchstäblich aus seinem inneren Bereich herausschiebt, mit voller Kraft und Entschiedenheit.
Dabei wird deutlich, wie schwer ihm das fällt, wie stark ein verinnerlichtes unbewußtes Abgrenzungsverbot wirkt!
Das gibt dem Leiter die Gelegenheit, ihn darauf hinzuweisen, dass der Klient das Recht, ja die Pflicht hat, seinen inneren Raum zu befreien – so wie Jesus den heiligen Raum des Tempels befreite, indem er mit heiligem Zorn die Händler aus ihm vertrieb.

Befreiung der konstruktiven Aggression in der Abgrenzung

Diese Übung stellt den Dreh- und Angelpunkt des Lösungs-Prozesses dar. Es kommt zu einer Umpolung des Agressionspotentials: statt destruktiv nach innen kann es sich nun konstruktiv nach aussen entfalten, zum Schutz des Eigenen. Das bewirkt beim Klienten eine sichtbare Veränderung, die Schwere, die Lähmung fällt ab, der Klient fühlt sich frei, handlungsfähig, er bekommt seine Würde, seine Haltung, seine Fröhlichkeit wieder.
Und seine Aggression hat wieder den konstruktiven Kanal gefunden, wo sie hingehört: die Abgrenzung!
Die Rose, die – in der Symbiose – ihre Dornen nach innen gerichtet hatte, – um noch lieblicher zu werden? – darf ihre Dornen wieder nach außen drehen, darf sich, ihr Selbst wieder schützen.

Und wenn im Rahmen der Systemaufstellung der Klient seiner “Mutter” sein Selbst vorstellt: “das ist der Teil von mir, der nicht brav, sondern wild, aggressiv, lebendig, kreativ und unbequem ist!”, dann macht er die erstaunliche Erfahrung, dass seine „Mutter“ – Stellvertreterin“ – ganz begeistert von diesem Selbst ist! Dass sie ihn mit seinem Selbst liebevoll und herzlich umarmt!

Kollektive Symbiose

Bei besonders ausgeprägten Symbiosemustern finde ich meist eine kollektive Symbiose. Über Generationen sind die Familienmitglieder miteinander verschmolzen, über Generationen wird das Symbiosemuster und ein damit verbundenes “Glaubens-System” weitergegeben. Zentral ist ein unbewusstes Abgrenzungsverbot. Genauer: die Vorstellung, die Aufgabe eines jeden sei es, „selbstlos“ (!) für die Bedürfnisse des anderen da zu sein, “Prothese” für dessen “Amputationswunde” zu sein. Selbst-Losigkeit wird – genauso wie Mit-Leiden – als Liebe verstanden, das Bedürfnis nach Selbst-Bestimmung und Abgrenzung dagegen als lieblos, egoistisch!
Doch wehe wenn jemand aus dieser kollektiven Symbiose aussteigen möchte – das System fühlt sich in Frage gestellt, gefährdet und versucht den Abweichler zu disziplinieren, indem es ihn als lieblos, amoralisch, egoistisch, ja als verrückt diffamiert. Oder ihn als “schwarzes Schaf” ausklammert, als abschreckendes Beispiel für die anderen.

Rolle des „Selbst“

Die Einbeziehung eines Stellvertreters für das Selbst erleichtert die Lösung des Symbiosemusters in mehrfacher Hinsicht:
Manchen erscheint das Lösen aus der Symbiose als unmöglich, so als bliebe ihnen dann gar nichts mehr. Der Blick auf das “Selbst” eröffnet da eine interessante Alternative. Das “Selbst” kann den Prozess der Abgrenzung wie ein Katalysator beschleunigen.
Meist ist das „Selbst“ dem Klienten in einer bedingungslosen Liebe zugewandt, dadurch öffnet sich – ohne Absicht – eine spirituelle Dimension.
Bisweilen fühlt sich das “Selbst” aber auch schwach, ängstlich und schutzbedürftig, so als würde es ein kleines Kind repräsentieren, dass damals nicht wahrgenommen, nicht getröstet werden konnte und das der Klient deshalb “vor die Tür geschick hat!” Das Annehmen dieses Teiles ist sehr entlastend und heilsam.

Das „Selbst“ erweist sich somit als eine entscheidende Ressource für den Lösungsprozeß und …es ist immer da, näher als der Klient es glaubt!

Juni 2008
E. Robert Langlotz, München

Feedback Stavros Mentzos zu diesem Konzept:

Obwohl ich, wie Sie wissen, in Bezug auf Systemaufstellung völlig unerfahren bin, finde ich Ihre “technische Innovation” mit der Einführung eines Repräsentanten des “Selbst” sehr sinnvoll und wahrscheinlich auch praktisch erfolgreich. Denn damit machen Sie für den Kunden nicht nur sein Selbst bewusster und greifbar, sondern Sie stellen ihm auch einen geeigneten Verteidiger zur Seite. Wenn wir bei der Metapher des gerichtlichen Prozesses bleiben, so braucht bekanntlich tatsächlich ein solcher durch Abhängigkeiten geschwächte und unentschlossener Angeklagter einen tüchtigen, einen energischen und dynamischen Verteidiger, der ihm zu seinem Recht, und hier können wir auch sagen, zu seiner Freiheit und Autonomie, hilft.

Ihre differenzierte Analyse der hartnäckigen und persistierenden Symbiose (sowie deren Vorgeschichte und Herkunft, auch bei der Mutter) ist recht überzeugend, sodass dadurch das “Dilemma”, auch inhaltlich, mehr an Deutlichkeit und offensichtliche große Relevanz gewinnt.